Markus Mühleisen: Agrana hat großes Potenzial
Autorin: Michaela Schellner
retailreport.at: Herr Mühleisen, Sie sind jetzt seit knapp 1,5 Jahren Vorstandsvorsitzender von Agrana. Wie haben Sie denn die vergangenen Monate in Ihrer neuen Funktion erlebt?
Markus Mühleisen: Ich habe im Juni 2021 bei Agrana begonnen und bin sowohl von den Mitarbeitern als auch von unseren Kunden extrem freundlich aufgenommen worden. Der Einstieg ins Unternehmen war richtig gut. Auf der anderen Seite war es eine sehr außergewöhnliche, turbulente und zum Teil auch schwierige Zeit geprägt von Corona und den zahlreichen Verwerfungen, die sich daraus ergeben haben.
Sie sprechen die volatilen Lieferketten an?
Das Thema Rohstoffversorgung, aber auch steigende Rohstoff- und Logistikpreise haben für große Verunsicherung gesorgt. Immer wenn man gedacht hat, dass man eine Situation gut bewältigt hat, standen neue unerwartete Ereignisse auf der Tagesordnung. Schwer getroffen hat Agrana etwa der Ukraine-Krieg. Ich denke da primär an unsere Kolleginnen und Kollegen in der Ukraine. Wir beschäftigen dort 800 Mitarbeiter, für die wir eine große Verantwortung haben. Ebenso wir für die 300 Mitarbeiter in Russland. Wirtschaftlich machte der Krieg Wertberichtigungen notwendig, die zwar nicht zahlungswirksam sind, aber sich deutlich in unserem EBIT niedergeschlagen haben: 95,5 Millionen im vergangenen Jahr und nochmals 92 Millionen Euro im ersten Halbjahr 22/23.
Die Geschäfte in der Ukraine und in Russland laufen weiter?
Ja. Von der wirtschaftlichen Gesamtbedeutung her sind die beiden Märkte mit jeweils zwei Prozent Umsatzanteil für Agrana überschaubar. Für unseren Geschäftszweig Fruchtzubereitung ist das Geschäft dort aber nicht zu unterschätzen. Und: Wir sind ein wichtiger Teil der Lebensmittelkette und stellen essenzielle Grundnahrungsmittel her, die bedeutend für die Versorgung der Bevölkerung sind. Wir haben uns deshalb gemeinsam mit unseren Kunden dazu entschieden, auch in Russland zu bleiben. Die Frage, was moralisch richtiges Verhalten ist, stellen wir uns jeden Tag. Aber um ehrlich zu sein: Es ist eine Abwägung zwischen zwei verschiedenen schwierigen Optionen, die wir ständig überprüfen.
Die Abhängigkeit von russischem Gas hat zu einer Preisexplosion auf den Energiemärkten geführt. Wie geht es Agrana diesbezüglich?
Agrana veredelt landwirtschaftliche Rohstoffe zu industriellen Produkten für die weiterverarbeitende Industrie. Dabei sind wir in den Geschäftsfeldern Frucht, Stärke und Zucker aktiv – die Produktion ist sehr energieintensiv. Alleine in Österreich liegt unser Gesamtenergiebedarf bei 2,75 Millionen MWh jährlich. Davon entfallen 1,43 Millionen MWh, oder anders ausgedrückt, 52 Prozent auf Erdgas. Um hier gegenzusteuern haben wir in den Produktionsstätten, wo es technisch möglich ist, auf ein duales Heizsystem mit Heizöl extra leicht umgerüstet. Dafür haben wir rund zehn Millionen Euro investiert.
In Bezug auf Klimaschutz und Ihr vorgegebenes Ziel, bis zum Jahr 2040 CO2-neutral zu produzieren, ist das aber nicht die beste Option, oder?
Das stimmt und schmerzt uns auch. Aber viel schlimmer wäre es, wenn unsere Produktionen stillständen. Wir sind ein wichtiger Partner der Landwirtschaft und gerade vor dem Hintergrund der Versorgungssicherheit gibt es in der Kürze der Zeit keine Alternative. Unser langfristiges Ziel bleibt aber die klimaneutrale Produktion bis zum Jahr 2040. Bis 2050 wollen wir die Klimaneutralität außerdem über alle Teile der Wertschöpfungskette erreicht haben.
Wie soll das gelingen?
Wir nehmen hierfür über 400 Millionen Euro in die Hand. Bis zum Jahr 2025/26 wollen wir auf Strom aus erneuerbaren Quellen um- und aus Kohle aussteigen. Außerdem setzen wir laufend Energieeffizienzsteigerungsmaßnahmen in allen Geschäftssegmenten um. Damit einher geht eine CO2-Emissionseinsparung von 25 Prozent. Ab 2026/27 sollen dann vermehrt eiweißarme Rohstoffreste energetisch genutzt werden.
Um unser Ziel der Netto-Null-Emissionen bis zum Jahr 2050 über die gesamte Wertschöpfungskette zu erreichen, arbeiten wir gemeinsam mit der Landwirtschaft an geeigneten Maßnahmen. Hier muss der Hebel am dringendsten angesetzt werden, denn wir als Agrana haben nur etwa 20 Prozent unseres CO2-Abdrucks selbst in der Hand. Der Rest entsteht entlang der Wertschöpfungskette, die wir nicht unmittelbar beeinflussen können.
Zusätzlich zu den Energiepreisen scheint auch keine Entspannung auf den Rohstoffmärkten in Sicht. Der Fachverband der Genuss- und Lebensmittelindustrie spricht von einer Kostenbelastung der Hersteller in noch nie dagewesenem Ausmaß.
Das ist richtig. Die Steigerungen sind enorm und wir tun alles, um in unseren Produktionsketten noch effizienter zu arbeiten. Große Sorgen bereitet mir zudem die Rekordinflation für unsere Kunden. Hier wird sich erst zeigen, wie sich diese auf die Konsumentennachfrage auswirkt.
Neben dem B2B-Geschäft bewegen Sie sich mit der Marke Wiener Zucker auch im Endkonsumentenmarkt. Steht hier eine Preiserhöhung an und falls ja, wie hart sind die Verhandlungen mit Ihren Handelspartnern aktuell?
Tatsache ist, dass wir aus Produzentensicht in unserer Preisgestaltung einerseits stark abhängig vom Preisniveau am Zuckermarkt sind, das konstant auf hohem Niveau ist, und andererseits durch enorm gestiegene Produktionskosten, Stichwort Energie, sehr gefordert sind. Natürlich ist die Inflation ein Thema, das alle Beteiligten in der Wertschöpfungskette herausfordert. Unsere Strategie legt den Fokus auf das Kostenmanagement, das heißt wir versuchen zunächst alle Effizienzen in unseren Handlungsbereichen bestmöglich auszuschöpfen. Zu Verhandlungen mit dem Handel geben wir keinen Kommentar ab.
Wie zufrieden sind Sie denn mit der Performance der Marke Wiener Zucker im Lebensmittelhandel und welche Innovationen haben Sie hier noch in der Pipeline?
Die Marke „Wiener Zucker“ genießt unverändert hohes Vertrauen und zeichnet sich durch eine große Sortenvielfalt aus. Dabei sind Produktinnovationen enorm wichtig und bringen neue Markt-Impulse. So sind der Sirupzucker, der Puderzucker und der Bio Staubzucker Beispiele aus der jüngeren Vergangenheit für exakt auf die geänderten Konsumentenbedürfnisse abgestimmte, neue Wiener Zuckersorten. Dabei lautet das Motto: Fokus auf Differenzierung und die Spezialitäten, die noch mehr Potenzial für die Handelspartner und letztlich für die heimische Landwirtschaft bieten.
Erst kürzlich hat die Alpha Republic GmbH, die sich mit ihrer Marke Neoh für Naschen ohne Reue stark macht, die Zuckerersatzformel ENSO 16 vorgestellt. Die Gründer sprechen von einem Gamechanger für die Nahrungsmittelindustrie, weil ENSO 16 Zucker in zahlreichen Nahrungsmitteln 1:1 ersetzen könne, ohne Auswirkungen auf Geschmack und Textur zu haben. Eine klinische Studie der MedUni Wien habe zudem bestätigt, dass ENSO 16 kaum Auswirkungen auf den Blutzuckerspiegel habe. Wie sehen Sie diesen Vorstoß und inwiefern könnte dieser Ihre Geschäfte beeinflussen?
Innovationen sind immer gut aber ob solche Zuckerersatzstoffe tatsächlich Gamechanger sind, muss sich erst zeigen. Die Absätze in unserem Retailgeschäft sind – trotz zahlreicher Zuckeralternivstoffe – stabil.
Mit Ihrem Antreten bei Agrana wurde auch ein Strategieprozess eingeleitet. Dieser soll bis Mai 2024 abgeschlossen sein. Auf welche Eckpfeiler werden Sie zukünftig setzen?
Wir befinden uns hier noch mitten im Prozess. Corona und der Ukraine-Krieg haben uns leider etwas ausgebremst, weshalb wir noch nicht ganz so weit sind, wie ich es gerne hätte. Aber nichtsdestotrotz arbeiten wir gemeinsam an der Weiterentwicklung des Unternehmens und wollen in einem ersten Schritt das bestehende Kerngeschäft rund um die Geschäftsfelder Frucht, Stärke und Zucker weiterentwickeln. In einem zweiten Schritt denken wir auch über neue Geschäftsfelder nach, wollen Gruppensynergien besser nutzen und auch geografisch expandieren. Wohin genau, das kann ich Ihnen zum jetzigen Zeitpunkt nicht nicht sagen.
Dann lassen Sie uns doch noch kurz über die Weiterentwicklung des Kerngeschäfts sprechen. Welche Pläne haben Sie hier?
Im Fruchtzubereitungsbereich sehen wir beispielsweise großes Potenzial bei Mischungen für pflanzenbasierte Joghurts sowie bei Spezialrezepturen mit funktionalen Benefits. Für kleinere Hersteller, die keine Kapazitäten zur eigenen Produktentwicklung haben, können wir auch fertige All-in-One-Lösungen anbieten. Das wollen wir zukünftig auch bei Fruchtsaftkonzentraten und Getränkegrundstoffen verstärkt forcieren.
Im Segment Stärke veredelt Agrana die Rohstoffe Mais, Kartoffeln und Weizen zu den unterschiedlichsten Stärkeprodukten für die Lebensmittel-, Kosmetik- und Pharmaindustrie und für weitere unzählige technische Anwendungen. Große Wachstumschancen sehen wir aber im Bereich Spezialstärke, wo wir eine breite Produktpalette in konventioneller, gentechnikfreier und in Bioqualität anbieten können.
Können Sie hier ein aktuelles Beispiel nennen?
Aktuelle Themen sind zum Beispiel die Entwicklungen von speziellen Stärken für den Einsatz als Latexersatz bei der Herstellung von gestrichenen, graphischen Papieren oder die Herstellung von „Green Glues“ als Alternative zu synthetischen Klebstoffen wie zum Beispiel Klebstoffdispersionen (PVAc). Eine weitere Entwicklung von Agrana ist ein aus Maisstärke hergestellter Bio-Kunststoff. Dieses Öko-Produkt besteht aus mehr als 50 Prozent thermoplastischer Stärke und ist im Heimkompost bis auf den letzten Bestandteil abbaubar, ohne jegliche Mikroplastikrückstände. Die Anwendungsbereiche sind vielfältig: Sie reichen von der Eignung als Knotenbeutel für Obst und Gemüse und in stärkerer Ausführung als Trage-Einkaufstasche bis hin zur Verwendung als robuste Verpackungs-Folie.
Das klingt nach umfangreichen Aufgaben. Ihre Bestellung läuft bis 31. Mai 2024. Wird sich das überhaupt alles ausgehen?
Die Strategie, die Agrana nun hat, ist nicht auf drei Jahre ausgelegt. Es geht darum, das nächste Kapitel der Unternehmensgeschichte zu schreiben, da denken wir schon längerfristig. Als Vorstandsvorsitzender möchte ich dieses Kapitel über meine aktuell laufende Bestellung mitgestalten und muss mich natürlich immer wieder beweisen. Ich denke, bis jetzt ist mir das sehr gut gelungen.
Herr Mühleisen, vielen Dank für das Interview.
Agrana-Fakten:
- Umsatz GJ 2021/22: 2,9 Mrd. Euro (+ 13,9 %)
- Mitarbeiter: 9.000
- Produktionsstandorte: 55 in 25 Ländern
- Geschäftsfelder: Frucht (43,1 % Umsatzanteil), Stärke (34,8 %), Zucker (22,1 %)
- Marke im B2C-Bereich: Wiener Zucker
Über Markus Mühleisen
Markus Mühleisen ist seit über 20 Jahren im Nahrungs- und Genussmittelbereich tätig, u.a. in internationalen Positionen bei Nestlé und General Mills. Zuletzt war der studierte Betriebswirt, der an der Schulich School of Business, York University in Totonto/Kanada einen MBA absolviert hat, Group-Vice President der Molkerei-Gruppe Arla Foods. Bei der Agrana Beteiligungs-AG ist Mühleisen seit 1. Juni 2021 als Vorstandsvorsitzender u.a. für die Ressorts Verkauf, Kommunikation, Strategie sowie Personal zuständig. Darüber hinaus ist er Vorstandsmitglied der Südzucker AG. Der 56-Jährige hat drei erwachsene Söhne und ist mit der Kanadierin Joanne verheiratet. Gemeinsam lebt das Ehepaar in Wien.