Corona-Skandal bei Tönnies hat positive Folgen
Reportage: Dr. Hanspeter Madlberger
Österreichs Lebensmittelwirtschaft ist mit jener in Deutschland eng verzahnt. Auf Produzentenebene ebenso wie im Handel. Zwangsläufig hat ein Megaskandal wie der Corona-Supergau bei Tönnies, Europas größtem Schweinefleisch-Produzenten weitreichende Auswirkungen auf die heimische Fleisch-, Schinken- und Wurst-Lieferkette. retailreport.at blickt hinter die Kulissen und entdeckt dabei, dass die Aufdeckung der Missstände in Westfalen dem Qualitätsfleisch aus den Schweineställen österreichischer Bauern gute Umsatzchancen eröffnet.
Dipl.-Ing. Dr. Johann Schlederer, Chef der österreichischen Schweinebörse, Mastermind des Qualitätsfleisch-Programms Gustino und Top Experte der internationalen Fleischwirtschaft umriss im Gespräch mit unserem Medium die Größenordnung der Connections heimischer Fleisch- Zerlegebetriebe und Fleisch-Importeure mit Tönnies.
In Österreich werden jährlich rund 4,8 Millionen Schweine aus heimischer Viehwirtschaft, sowie rund 400.000 lebende Import-Schweine geschlachtet. Von diesen 5,2 Mio liefern rund 4 Mio das Fleisch für den österreichischen Markt, der Rest geht in den Export. Die drei größten Schlacht- und Zerlegebetriebe im Lande sind Marcher, Grossfurtner und Steirerfleisch.
Schweinefleisch-Import aus D: Rund ein Viertel davon kommt von Tönnies
Von den rund 2,5 Millionen geschlachteten Schweinen, die unser Land jährlich importiert, stammen rund 1,5 Millionen aus Deutschland, nicht weniger als ein Viertel davon, also rund 400.000 Stück liefert die Firma Tönnies, die selber schlachtet, zerlegt und das Fleisch im In- und Ausland verkauft. Wie deutsche Medien berichten, erzielte Tönnies im Jahr 2019 weltweit einen Umsatz von 7,3 Mrd. Euro. In Deutschland hält der Tönnies-Clan, dessen Oberhaupt Clemens Tönnies auch Vorsitzendes im Aufsichtsrat des Bundesligaclubs Schalke 04 ist, bei Fleisch einen Marktanteil von rund 20%. Und ist damit die klare Nummer Eins der Branche vor Westfleisch und dem niederländischen Vion-Konzern. Beim Schweinernen hält Tönnies auf dem deutschen Heimmarkt laut LZ mit 16 Mio Schlachtungen jährlich sogar einen Marktanteil von 30%.
Tönnies-Hauptkunden: Schinken- und Wurstproduzenten, Gastro-GH
Österreichische Hauptabnehmer des Fleisches von 400.000 geschlachteten Tönnies Schweinen (das entspricht 2,5 % der gesamten Tönnies-Produktion in D) sind einerseits eine Anzahl von Schinken- und Wurstproduzenten, andererseits etliche Lebensmittelhändler, vor allem aus den Reihen des Gastronomie-Großhandels, aber auch des LEH. Rewe und Spar erklärten unisono gegenüber Medien, dass sie aktuell kein Fleisch von Tönnies beziehen. Das lässt sich beim Frischfleisch klar nachvollziehen, da die Herkunftskennzeichnung des Fleisches im Supermarkt gesetzlich vorgeschrieben ist. Wie dem jüngsten Spar-Nachhaltigkeitsbericht zu entnehmen ist, verkauft die Tannenorganisation schon seit vielen Jahren zu 100% Rind-, Kalb- und Schweinefleisch, ausgestattet mit dem AMA Gütesiegel. Dazu bekennen sich auch Billa und Hofer. Die Aldi-Tochter dehnt die 100%-Österreich-Formel neuerdings auch auf Hühnerfleisch aus, Billa geht noch einen Schritt weiter und bezieht seit Mai auch den gesamten Geflügelbereich, also Hühner- und Putenfleisch aus heimischer Produktion. Dazu läuft jetzt in der Grill-Hochsaison eine intensive TV-Kampagne.
Lidl- Mutter Schwarz setzt Tönnies unter Druck
Als Großimporteur von Tönnies-Schweinefleisch und -Wurstwaren wurde bislang in der Branche Discounter Lidl gehandelt. Vor wenigen Tagen gab die Schwarz-Gruppe, Mutter von Lidl in Deutschland bekannt, dass sie künftig Fleisch nur von solchen Zerlegebetrieben kaufen werde, die keine Werkverträge mit Subunternehmern unterhalten. Damit setzt der Global Player unter Deutschlands Einzelhändlern dem ausbeuterischen Leiharbeitermodell des ebenfalls global vernetzten Tönnies das Messer an. Hauptmitbewerber Westfleisch kündigte seinerseits bereits an, Verträge mit Leiharbeiterfirmen aufzukündigen und in Zukunft ausschließlich firmeneigenes Personal bei der Zerlegung einzusetzen.
Auch Clemens Tönnies zeigte sich angesichts des Imagedebakels, ausgelöst durch mehr als 1500 Corona-Erkrankungen von in Notunterkünften hausenden Leiharbeitern im Werk Rheda-Wiedenbrück einsichtig. „Wir werden unser Geschäft von Grund auf ändern“, gelobte er im Scheinwerferlicht zahlloser TV-Kameras. Laut Pressemitteilung vom 23. 6. plant Tönnies ab 1.1. 2021 die Abschaffung von Werkverträgen in allen Kernbereichen der Fleischgewinnung und die Direkteinstellung dieser Mitarbeiter in die Unternehmensgruppe.
Tönnies zählt auch zu den bedeutenden Wurstproduzenten Deutschlands. Die Tochterfirma zur Mühlen mit Hauptsitz in Böklund produziert mit über 4000 Mitarbeitern jährlich mehr als 2 Milliarden Wurst-SB Packungen. Zur Unternehmensgruppe gehören Wurst-Marken wie Böklunder, Gutfried, Redlefsen, Plumrose oder Original Lechtaler. Im Juni 2019 verkaufte Bell Food, Tochter der Coop Schweiz ihre Wurstproduktion in Deutschland an die zur Mühlen-Gruppe.
Die Rolle des Gastro-Großhandels
Einen bedeutenden Anteil an den Importen von Tönnies-Schweinefleisch hat der heimische Gastro-Großhandel. Nach Experten-Schätzungen bezieht unsere Gastronomie mehr als 40% des für die Menüs benötigten Fleisches von den C&C-Märkten und Zustelldiensten. Und nicht „vom Bauern aus der Umgebung“, wie uns prominente Haubenköche in schöner Regelmäßigkeit weismachen wollen. Bei der Kalkulation der Menüpreise spielt der Einkaufspreis des Fleisches eine überragende Rolle, weshalb für Wirte und Restaurantbetreiber billig eingekauftes Fleisch ein Rentabilitätsfaktor ersten Ranges ist. Das wiederum heizt den Preiswettbewerb zwischen den Gastro-Großhändlern an. Was liegt näher, als sich im Niedrigpreisland Deutschland nach Billiganbietern umzusehen? Auf der Tönnies-Kundenliste stünden unter anderen Firmen wie Kröswang, Wedl und Transgourmet, wissen Branchenkenner zu berichten.
Das Match Bauernbund gegen Metro
Häufig artet die Diskussion über die Fleisch-Herkunft in einen Schlagabtausch zwischen Bauern-Lobby und Gastro-Großhandel aus. Als Metro vor zwei Wochen Schweinskarree aus D zum Kilopreis vom 2,99 Euro bewarb (das laut Insider-Info nicht von Tönnies bezogen wurde), folgte ein Aufschrei des Bauernbundes, verbunden mit einem Boykottaufruf. Bauernbund-Präsident Georg Strasser:„Es ist moralisch sehr bedenklich, Lebensmittel so zu entwerten. Und gleichzeitig ist es bedenklich, dass es immer noch viele gibt, die solche Angebote annehmen. Hier muss es auch bei den Abnehmern aus der Gastronomie, Hotellerie und den Großküchen ein rasches Umdenken geben.“ Das Entlastungsmanöver von Metro Österreich-Chef Xavier Plotitza ließ nicht lange auf sich warten. Einige Tage nach dem Preis-Eklat ließ er die Medien wissen, dass Metro gemeinsam mit rund 40 Biosphärenpark-Landwirten einen wesentlichen Beitrag zur Kreislaufwirtschaft mit Rindern im Lungau leiste. „In Zusammenarbeit mit Salzburg Milch GmbH wird in einem, in Österreich einzigartigen Projekt, zuerst die Milch und zuletzt das Fleisch der Milchkühe vermarktet“. Das Fleisch der „Alten Kuh“ sei in der Gastronomie sehr beliebt. Ebenfall bei Metro erhältlich: Aromatisches Fleisch der steirischen Duroc-Schweinerasse.
Tönnies hat ein Faible für Salzburg und Tirol
Clemens Tönnies hat einen starken emotionalen Bezug zu Österreichs Bergwelt. Er besitzt ein Jagdrevier im Bundesland Salzburg, das er seinerzeit vom legendären (2013 verstorbenen) Krupp-Generalbevollmächtigten Berthold Beitz übernommen hat (Quelle: Die Zeit Nr. 45/2015). Eine Tageszeitung stöbert ein älteres Foto auf, das einen Tönnies-Lieferwagen vor einem MPreis Markt in Tirol zeigt. Daraufhin ließ der erfolgreiche Regionalfilialist verlauten, man habe den Einkauf von Tönnies-Fleisch eingestellt.
Traditionell eng ist die Zusammenarbeit zwischen Tönnies und Handl Tyrol. Über die ökonomische win/win-Situation dieser Kooperation gibt ein Bericht in der jüngsten Ausgabe der GS1 Austria Info Auskunft. Diesem ist zu entnehmen, dass Handl 60% seines Umsatzes im Export erzielt, wobei Deutschland der bedeutendste Absatzmarkt ist. Da erfährt man: Handl Tyrol bezieht sein Rohstoffe ausschließlich aus kontrollierter Herkunft. So wird nur Fleisch aus Österreich (AMA Gütesiegel) oder Deutschland (QS-Gütesiegel) verarbeitet. Im Klartext: Tönnies-Fleisch, ausgestattet mit dem deutschen Herkunftssiegel ist die Grundlage der Handl-Exporterfolge beim nördlichen Nachbarn. In den Märkten von Spar, Billa und Hofer hingegen punktet das Handl-Markensortiment mit dem AMA-Gütesiegel. Diese perfekte Doppelstrategie betreffend die Rohstoff-Herkunft für den Export- und den Inlands-Absatz teilt Handl mit einer Reihe anderer heimischer Schinken- und Dauerwurst-Produzenten. Und sie schaffen mit dieser Veredelung, die der Logik des EU-Binnenmarktes entspricht, eine hohe Inlandswertschöpfung. Ein gesamtwirtschaftlicher Aspekt, den unsere Bauern-Lobby gerne verdrängt. 100% Eigenversorgung bei Schweinefleisch sei in Österreich möglich, erklärte Landwirtschaftskammer-Präsident Josef Moosbrugger.
Billigfleisch, eine deutsche Erfindung?
Der Billigfleisch-Boom im deutschen LEH, ist Ausdruck und Folge der „Geiz ist geil“-Welle, die Jahrzehnte hindurch von Discountern angeheizt wurde. Nolens volens zogen auch die genossenschaftlichen Vollsortimenter Edeka und Rewe mit, die ja ihrerseits mit Netto und Penny ebenfalls am Discount-Umsatzkuchen mitnaschen. Erst in jüngster Zeit verfolgen, befeuert durch Klima- und Corona-Krise sowie wachsenden politischen Druck große deutsche Handelsketten einen Kurswechsel in Richtung Grading-up.
Bei uns war es seinerzeit Billa-Gründer Karl Wlaschek, der Frischfleisch preisaggressiv als Frequenzbringer einsetzte und damit dem Fleischerhandwerk massive Umsatzeinbrüche bescherte. Ältere Semester erinnern sich an den TV-Spot mit dem herabsausenden, den Fleischpreis kurz und klein schlagenden Tiefpreis-Beil. Heute herrscht im LEH beim Frischfleisch, das weitestgehend aus Österreich stammt, Ausgeglichenheit zwischen den Supermarktketten und dem Discounter-Duo Hofer/Lidl. Das zeigt sich auch bei den Marktanteilen. Laut RollAMA erreichten Hofer/Lidl zuletzt bei Frischfleisch zusammen einen Mengenanteil von 22,9% und einen Wertanteil von 22,0%, da liegt man geringfügig unter den Anteilen beim Gesamtsortiment.
Etwas anders verhält es sich bei Wurst und Schinken, wo der Mengenanteil von Hofer/Lidl mit 27,2% deutlich über dem Wertanteil von 22,8% liegt. Diese Differenz signalisiert eine Preisaggressivität, die auf die billigeren Rohstoffe aus deutschen Schweine-Schlachthöfen zurückzuführen ist. Da hierzulande die Fleischzerlege- und -Verarbeitungsbetriebe wesentlich höhere arbeitsrechtliche Auflagen zu erfüllen haben, als ihre deutschen Mitbewerber, müssen sie einen Wettbewerbsnachteil in Kauf nehmen, egal ob sie den Rohstoff aus Österreich oder anderen EU-Ländern beziehen.
Lehren aus der deutschen Corona-Fleischkrise
Wenn künftig beim nördlichen Nachbarn mit den unsozialen Praktiken bei der Fleischzerlegung aufgeräumt wird, was zu hoffen ist, sollte sich diese Diskriminierung der heimischen Fleischverarbeiter auf ein erträgliches Maß reduzieren. Kostenunterschiede bleiben dennoch bestehen wegen der unterschiedlichen Betriebsgrößen. Allein Tönnies schlachtet jährlich mehr als dreimal so viele Schweine wie die gesamte Branche in Österreich.
Für Johann Schlederer hat der Tönnies-Skandal und dessen Aufarbeitung summa summarum durchaus positive Auswirkungen auf Österreichs Fleischwirtschaft „from pork to fork“. Nachhaltigkeits-, Tierwohl und Qualitätsprogramme der heimischen Produktion und ihrer Lieferketten für den Inlandsabsatz werden gefördert. Weil die Schweinefleisch-Preise trotz der Corona-Turbulenzen beim großen Nachbarn entgegen anders lautender Zeitungsmeldungen (die Krone vom 23.6.: „Billigfleisch setzt Bauern unter Druck“) voraussichtlich stabil auf einem für unsere Mäster akzeptablen Niveau bleiben. Weil die Konsumentenschaft durchaus bereit ist, für sichere und nachhaltige heimische Fleischqualität mehr zu bezahlen. Schlederer: „Man kann davon ausgehen, dass die negativen Schlagzeilen über die Missstände in der deutschen Fleischwirtschaft alle zum Nachdenken veranlassen. Ich bin mir sicher: Österreichs alternativer Weg der regionalen Versorgung und der Tierwohl-Initiativen - wie z.B. unser „Gustino Stroh“- Programm - trägt in Corona-Zeiten Früchte.“