Höchster Crash-Alarm für KMU-Händler
Wenn sich bei einem Formel I-Rennen ein Unfall ereignet, tritt das Safety Car in Aktion und legt für ein paar Runden den Wettbewerb lahm. Ähnliches passiert zurzeit in unserer Wirtschaft, wo die Behörde im Kampf gegen das Corona-Virus neuerlich einen Lockdown verhängt. Wobei man darüber streiten kann, ob es sich um eine Light-, eine Medium- oder eine Hardcore-Version handelt.
Der wesentliche Unterschied zur Safety Car-Intervention: Die einzelnen Teilnehmer des Wettbewerbs werden auf sehr unterschiedliche Weise eingebremst. Einige, wie der Lebensmitteleinzelhandel, Drogeriemärkte und Apotheken dürfen, ja sollen sogar mit Vollgas weiterfahren. Andere, wie weite Kreise der Gastronomie und Kultureinrichtungen werden angehalten und zum Parken auf den Pannenstreifen verdonnert.
Dass solche Eingriffe von oben, so sehr sie, weil dem höheren Wert des Gesundheitsschutzes für die gesamte Bevölkerung geschuldet, gerechtfertigt sind, zu schweren Verwerfungen im Wettbewerb führen, und in der Folge tausende Unternehmen einem betriebswirtschaftlichen Erkrankungsrisiko mit möglicherweise letalem Ausgang aussetzen, liegt auf der Hand.
So stellt der zweite Corona-Lockdown die Unternehmer und Manager der österreichischen Konsumgüter-Wirtschaft vor noch nie da gewesene Herausforderungen. Einziger Trost: Wenn, wie unser Bundeskanzler prognostizierte, die Medizin ab Jahresmitte 2021 der COVID-19 Welle mit einer breiten Schutzimpfungswelle begegnen kann, sollte das Ärgste überstanden sein. Bis dahin aber stehen die gesamte Wirtschaft unter Dauerstress. Und die staatliche Krisen-Rettungsambulanz im Dauereinsatz.
Tiefe Kluft zwischen systemrelevanten und nicht systemrelevanten Handelstypen
Die Corona-Wirtschaftskrise trifft in besonderem Maße den heimischen Handel, bei dem die Spreizung zwischen höchst krisengefährdeten und einigermaßen krisenresistenten Branchen besonders stark ausgeprägt ist. Der Handelsverband rechnete noch vor dem Start der zweiten Lockdown-Welle für 2020 mit einem Umsatzminus von 32% im heimischen EH. Aber angesichts der großen Bandbreite der Corona-Schäden sagt dieser Durchschnittswert für die Praxis wenig aus. Die Analyse muss tiefer gehen, sie muss eine faktenbasierte Diagnose der einzelnen Handelsbranchen erstellen um als Grundlage einer erfolgversprechenden Therapie zu taugen. Und um es in aller Deutlichkeit zu sagen: Bei der empirisch-wissenschaftlichen und praktischen Aufarbeitung der Corona-Folgen agieren deutsche Handelsforscher und -berater wesentlich effizienter als ihre Kollegen in unserer Alpenrepublik.
So beschreibt das EHI Whitepaper über „Retail Trends 2020“ die Bruchlinie zwischen den systemrelevanten EH-Vertriebsformen (wie LEH, Drogeriemärkte, Apotheken) und nicht systemrelevanten Handelstypen; und nimmt diese Differenzierung zum Ausgangspunkt für völlig unterschiedliche Strategieempfehlungen. So ist beispielsweise der viel gepriesene Online-Handel für nicht systemrelevante Handelsbetriebstypen wie Modekaufhäuser, Warenhäuser und Nonfood-Fachmärkte und -zentren ein unverzichtbarer Rettungsanker, während E-Food beim deutschen LEH auch im Corona-Jahr 2020 nicht über einen Marktanteil von 2% hinauskommt. Befund des EHI: Funktional-nüchterne Einkaufsdestinationen wie Lebensmittel-geankerte Vollsortimenter in Naheversorgungslage kommen relativ gut durch die Krise.
Nonfood-Handel braucht andere Rezepte als Lebensmittelhandel
Nonfood-Händler hingegen leiden doppelt: Einerseits unter den Umsatzeinbußen, ausgelöst durch kurzfristige Lockdowns, vor allem aber durch den längerfristigen Konsumverzicht kaufkraftschwacher und Corona-verängstigter Konsumentenschichten. Die Shopper Journeys haben sich solcherart im Pandemiejahr 2020 radikal gewandelt. Erlebnis- und Impulskäufe gingen zurück, Versorgungskäufe legten zu. Diese Entwicklungen gilt es, zeitnah zu quantifizieren und auch in dieser Hinsicht wird die Branchenöffentlichkeit in Deutschland von Handelsforschern wie Nielsen und GfK wesentlich prompter und umfassender bedient als im gemütlich-verträumten Österreich.
Corona bewirkt in der Food-Branche einen Anstieg des in-home-Konsums zulasten des out-of-home-Konsums. Darunter leidet nicht nur die in viele Betriebstypen aufgefächerte und, anders als in Deutschland, stark Tourismus-geprägte Gastronomie, sondern auch der Gastro-Großhandel, der logistisch für rund 40% des Wareneinsatzes im Gastronomie- und Beherbergungsgewerbe aufkommt. Solcherart spiegelt sich die Umsatz- und Ertragskrise der Gastronomie weitgehend in den Verlustrechnungen 2020 unserer Gastro-Großhändler.
Illusionen über E-Commerce-Plattformen
Schier atemberaubend sind hierzulande die Illusionen, die selbst von vielen Fachleuten über die E-Commerce-Entwicklung im heimischen Handel verbreitet werden. Im „Trend“-Interview sagte IHS-Chef Martin Kocher: „Große Krisen verstärken den Strukturwandel. Die Digitalisierung hat sich nun noch viel stärker auf unseren Konsum und unserer Arbeitswelt ausgewirkt. Ich glaube, in Österreich sind jetzt auch die letzten KMU aufgewacht:“ Schön wär`s!
Bei seinem Vortrag im Business Club Hamburg lieferte ein anderer „gstudierter“ Martin, nämlich Martin Fassnacht, Professor der Otto Beisheim Privatuni in Vallendar bei Düsseldorf, einen ganz anderen Befund, betreffend den Fortschritt in der Digitalisierung. Er stellte fest, die meisten Einzelhändler in Deutschland hätten große Probleme bei der Integration des Online-Business in den bestehenden stationären Betrieb. Das Nebeneinander von Online und Offline-Absatzsystemen funktioniere nicht. Es bedürfe vielmehr eines ganzheitlichen Omnichannel-Marketing. Dieses müsse ein individuelles Angebotsprofil entwickeln, maßgeschneidert für die Bedürfnisse der neuen E-shopper-Generation. Aus dem Stand heraus einen Online- bzw. Omnichannel-Vertrieb gegen Amazon, Zalando & Co auf die Beine zu stellen, bleibt ein frommer Wunsch, eine Herausforderung, die selbst globale Verticals, wie H&M, Zara oder Ikea nicht ohne weiteres stemmen können.
Weltweit nimmt der Wettlauf im Nonfood-Handel, die massiven Corona-Einbußen im Geschäftsverlauf durch E-Commerce zu mildern, dramatische Ausmaße an. Amazon wartet mit einem Rekordwachstum auf. Handelsriesen wie Wal-Mart legen eine sehenswerte Aufholjagd im digitalen Fernhandel hin. Auf der Strecke bleiben mittelständische Händler, denen hierzulande vorgaukelt wird, sie könnten mit regionalen E-Marktplätzen den Internet-Kraken paroli bieten. Das Schweigen über die Umsatzerfolge dieser Initiativen ist vielsagend.
Es braucht maßgeschneiderte Lösungen für KMU-Händler
Auch bei diesem brisanten Thema, lohnt sich der Blick ins Nachbarland, wo kleinen Kaufleuten pragmatische Problemlösungen angeboten werden. So legt das EHI den Mittelständlern die Broschüre „Bündle und herrsche, Micro-Hubs als Frequenzbringer für den Offlinehandel“ ans Herz. Sie zeigt auf, wie sich kleine Kaufleute am Land durch Mini-Depots für Online-Händler eine zusätzliche und zudem kostengünstige Umsatzquelle erschließen können. Das Sonderheft „Aufbruch“, von Google redigiert und als Beilage der deutschen Wirtschaftswoche breit distribuiert, zeigt an Hand konkreter Beispiele auf, wie Mittelständler die ersten Schritte in Richtung digitalen Verkauf und digital gestützter Effizienzsteigerung unternehmen können. Erfolgsrezepte dieser Art sind hierzulande viel dünner gesät. Eine löbliche Ausnahme stellt das oberösterreichische Modehaus Kutsam mit seinen Filialen im Raum Steyr-Mühlviertel dar. Vor dem Schaufester eines Kutsam-Geschäftes stehend, können Kunden mittels Handy die QR-Codes der ausgestellten Ware einscannen und auf diese Weise einen Online-Einkauf tätigen. Chapeau!
Kooperationen: Efficient Corona Response ist gefragt
Völlig lax aber verläuft hierzulande die Diskussion, wie der KMU-Handel, ja die gesamte FMCG-Branche, die Corona-Schäden durch innovative Kooperationen abfedern könnte. An dieser Stelle darf der Vorschlag wiederholt werden, auf ECR-Basis ein „Efficient Corona Response“-Programm in Zusammenarbeit von Markenartikelindustrie und Einzelhandel aufzustellen und durch Trials voranzutreiben.
Speziell bei den Lebensmitteln geht es um einen Green Deal „from Farm to Fork“ entlang der gesamten Supply Chain, die Landwirte, Verarbeiter, Händler und Gastronomen gleichermaßen umfasst. Ähnliches gilt für das Projekt „Netzwerk Kulinarik“, wo der Feinkost-Handel als Stakeholder nicht fehlen darf. Kooperation und Konkurrenz schließen einander ja nicht aus. So beschert der Lockdown dem Vertriebsmodell „Take away Food“ einen handfesten Wachstumskick. (retailreport.at berichtete darüber). Lebensmittelhändler, vor allem jene, die wie Merkur und Interspar über eine ausgereifte Ladengastronomie verfügen, können sich mit Steirereck und McDonalds matchen, wer seine Kunden mit „Corona-sicheren“ Menüs versorgt. Home Meal Replacement fürs Home Office, eine logische Coronomic-Marketingstrategie. Das zeichnet ja den echten Unternehmer aus, verdammt schwierigen Verhältnissen das Beste für die Kunden und den eigenen Betrieb abzuringen.