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WKO Sparte Handel: Halbjahresbilanz und Herbstprognose

Krise fast überstanden, Digital-Challenge bleibt

Die WKÖ Sparte Handel gibt die Ergebnisse der Halbjahresbilanz bekannt und stellt eine Herbstprognose.

Bericht: Dr. Hanspeter Madlberger

Ein tiefer Spalt tut sich zum Herbstauftakt in Österreichs Einzelhandelslandschaft auf. Auf der Gewinnerseite steht der Lebensmittelhandel, der seit 2019 im Halbjahresvergleich  (1. HJ 2019/2021) um insgesamt 13,4% zulegte. Auf der Verliererseite einzelne Fachhandelsbranchen, deren bedeutendste, der Modehandel, im Vergleich 2019/2021 um rund 22% einbrach. Die Umsatzverläufe 2019/2021, die Handelsforscher Peter Voithofer (Economia Institut) am 19.8. beim Pressegespräch von Spartenobmann Rainer Trefelik aufzeigte, erinnern an eine Fahrt auf der Hochschaubahn.

Ein Großteil der Corona-bedingten Einbrüche 2020 konnte 2021 wettgemacht werden, aber je nach Branche ergibt sich ein sehr unterschiedliches Bild der Entwicklung in den letzen 24 Monaten. Glänzend erholt haben sich zuletzt die Bau- und DIY-Märkte. Ihr Umsatz stieg im ersten Halbjahr 2021 gegenüber dem Vergleichszeitraum 2020 um 13,1%, gegenüber jenem von 2019 sogar um 20,5%. Wachstum seit 2019 verzeichnet auch der Elektrohandel.
20/21: +6,4%, 19/21: + 10,1%.
Für Kulturfreunde besonders erfreulich: Österreichs Buchhandel trotzte in den letzten Jahren erfolgreich der Amazon-Offensive, stoppte den Höhenflug des seinerzeitigen Gamechangers. Reserve&Collect in Verbindung mit der Buchpreisbindung machen die Trendwende  möglich.

Nicht so erfolgreich verlief hingegen der Restart im Bekleidungs- und Schuhhandel. In der Fashion-Branche sank der Halbjahresumsatz im Vergleich 2019/2021 um 21,7%. Von 2020 auf 2021 verlangsamte sich der Umsatzrückgang auf ein Minus von 2,7%. Voithofer ortet im Jahr 2021 "eine gegenläufige Konjunkturentwicklung zwischen Offline- und Online-Einzelhandel". Von 2019 auf 2021 (jeweils im 1.HJ) stieg der Online-Umsatz um 24,2%, von 2020 auf 2021 "nur mehr" um 10,8%. Eine realistische Bilanz der Wechselwirkung von Corona und E-Commerce zieht Trefelik: "Wir  können Online nicht aufholen, was wir stationär an Umsatz verloren haben".

Die Sache mit dem Internet-Hype im Gebrauchsgüter-Fachhandel (dem die Kollegen aus dem Lebensmittelhandel gerne das despektierliche Etikett "Nonfood-Handel" verpassen) ist also kompliziert. Und sie wird noch komplizierter, wenn man der Frage nachgeht: Wie ermittelt die Marktforschung die Online-Umsätze im heimischen Handel? Voithofer nennt als Quelle die Umsatzzahlen, die von der Finanzbehörde aufgrund der Umsatzsteuererklärungen der in Österreich gemeldeten Onlinehändler bekannt gegeben werden. Click&Collect-Umsätze werden somit nicht dem Onlinehandel, sondern dem stationären Bereich zugezählt. Welchem der beiden Bereiche die Marktplatz-Umsätzen z.B. von Zalando oder die Omnichannel-Verkäufe von C&A zuzurechnen sind, fällt vermutlich unter das Kapitel "Grauzone".

Die fehlende Transparenz bei der Erfassung der tatsächlichen Markt- und Marktanteilsentwicklung im Wettbewerb zwischen Online- und Offline-Vertrieb von langsam drehenden Konsumgütern wirft die Frage auf, wie realitätsnah die Schönwetterprognose ist, die Trefelik und seine Berater für den Fachhandel in Österreich abgaben. Wie sehr  das Zusammenwirken von COVID-19 und dem globalen Digitalisierungs-Hype das Konsum- und Einkaufsverhalten der Bevölkerung bei Kleidung, Schuhen, Sportartikeln, Elektrogeräten etc. verändert haben, ist mittlerweile durch zahllose Studien belegt. Hingegen kann die heimische Handelsforschung derzeit kaum zuverlässige Auskunft darüber geben, wie erfolgreich die Leitbetriebe in den einzelnen Branchen bislang digitale Tools in ihren Logistik-, Marketing- und Vertriebsabteilungen implementieren konnten.

Möbelhandel: Ikea liegt bei Online weit vor XXXLutz und Kika/Leiner

Welch ein dichter Nebel beim Match zwischen Online- und Offlinehandel über dem Spielfeld lastet, zeigt ein Blick in den Möbelhandel. Anlässlich der Eröffnung des neuen Ikea Prototypen am Wiener Westbahnhof am 26. 8. sagte Rodolpho de Campos, Country Finance Manager von Ikea Österreich und Mastermind des innovativen Formats in einer Medienaussendung: "Mit diesem Konzept gelingt uns die Verschmelzung von Online und Offline sowie von Freizeit-Treffpunkt und einzigartigem Shoperlebnis." Digitales Highlight dieses Omnichannel-Marktauftritts ist die Ikea App, mit Scan&Pay-Funktion ausgestattet.

Bei Ikea Deutschland, der größten Auslandstochter des schwedischen Möbelriesen kletterte der Anteil der Online-Verkäufe am Gesamtumsatz von 9,4% im Geschäftsjahr 2019 (per 31.8.) auf 16,2% im GJ 2020. Im Bericht über XXXLutz meldet die Kronenzeitung, der Onlineanteil des heimischen Möbelhandels sei zuletzt laut Branchenschätzung "auf 10% gestiegen". Kika/Leiner-Geschäftsführer Reinhold Gütebier spricht zwar gegenüber den Medien von stark steigenden Online-Umsätzen, verweigert aber jede Auskunft über den Umsatzanteil der Internet-Verkäufe.

Consultant Simon über Digital-Defizit der Mittelständler

Heimische Familienunternehmen im Wettbewerb mit Big Global Players, diese Konstellation ist typisch für zahlreiche Branchen unseres Fachhandels. In der demnächst erscheinenden Neuauflage seines Bestsellers "Hidden Champions" benennt BWL-Professor und Management-Vordenker Hermann Simon zwei aktuelle Schwachstellen der einst wegen ihrer Innovationskraft so hoch gelobten mittelständischen Unternehmer Deutschlands: Die aktuellen Risikofaktoren vieler Familienunternehmen lägen in ihrem mangelhaften Umgang mit der Digitalisierung und in ihrer Scheu, sich auf dem Kapitalmarkt die nötigen Mittel für die Innovationsinvestitionen zu besorgen. Zu den wenigen Ausnahmen, die diese Regel bestätigen, zählt nach Simons Ansicht das Berliner Familienunternehmen Zalando, das 2008 von David Schneider und Robert Gentz gegründet, im Jahr 2020 als Onlinehändler in den Sparten Schuhe, Bekleidung und Kosmetik einen Umsatz von knapp 8 Mrd. € erzielte und im 2. Quartal 2021 ein Plus gegenüber dem Vorjahr von 40%  auswies. Die Zalando-Aktie notiert seit einigen Jahren an der Frankfurter Börse und soll kommenden Herbst in den DAX aufgenommen werden, was einem Ritterschlag seitens der Finanzwelt gleichkommt.

Was unterscheidet Popp & Kretschmer von Zalando?

Von einer "gegenläufigen Konjunkturentwicklung zwischen Offline- und Onlinehandel" kann im heimischen Modehandel jedenfalls nicht die Rede sein. Handelsverband-Mitglied Zalando hat im heurigen Frühjahr mittelständische Modekaufhäuser eingeladen, seine Connected Retail-Plattform als zusätzliche Absatzschiene zu nutzen und damit dem Beispiel von C&A und dem Shopping Center-Betreiber Unibail-Rodamco-Westfield zu folgen, die schon früher Kooperationen mit Zalando eingegangen sind. 
Für das Wiener Modehaus Popp & Kretschmer, gegründet 1889, das Spartenobmann Rainer Trefelik gemeinsam mit seinem Bruder leitet, ist eine Connection mit Zalando wohl keine Option. Zu unterschiedlich sind die Zielgruppen: Zur Klientel des "Multi Brand Fashion Store" Popp & Kretschmer zählen die feine Wiener Gesellschaft und betuchte Touristen, die sich im Kaufhaus vis a vis der Staatsoper für festliche Anlässe einkleiden. Zalando-Shopper ordern hauptsächlich preiswerte Freizeitkleidung, die durchschnittliche Bonsumme beträgt 57.- €. Die Website von Popp & Kretschmer präsentiert sich als virtuelle Fotogalerie der neuesten Modetrends. Für den Spartenobmann Handel ein wichtiger Kundenservice, aber kein Umsatzturbo.

"Die (WIFO-)Prognosen lassen Umsatzzuwächse im Handel im zweiten Halbjahr erwarten", diagnostiziert Voithofer und er beruft sich dabei auf gesamtwirtschaftliche Indikatoren wie das BIP-Wachstum, für 2021 mit 6,5% veranschlagt und den Anstieg der Konsumausgaben um 7,4%. Aber diese Konjunkturerholung, überschattet von den Unwägbarkeiten neuerlicher Corona-Belastungen, ist für die einzelnen Handelsfirmen in den unterschiedlichen Branchen kein Selbstläufer. Da bedarf es handfester Umsatzankurbelungs-Maßnahmen.

JKU legt Trend-Studie über digitales Enpowerment der Serviceleistungen vor

Christof Teller, Professor am Institut für Handel, Absatz und Marketing an der Johannes Kepler Universität Linz und Ernst Gittenberger, der an diesem Institut das Centre of Retail and Consumer Research leitet, haben im Auftrag der WKÖ  einen Trendreport verfasst, der dem heimischen Handel Orientierungshilfe für den Ausbau seines Service-Angebots bieten will. Eine Auswertung von 69 internationalen Shopper-Trendstudien hat nämlich ergeben, dass der stationäre Handel im Kreuzfeuer von Corona-Einflüssen und Online-Attacken durch "Servitisation", den Ausbau seiner individuellen Dienstleistungen für die Kundschaft punkten kann. Zur Auswahl stehen laut Studie fünf "Trendfamilien":

o Premium-Beratung durch Mitarbeiterinnen und Mitarbeiter mit Expertenstatus

o Digitale Services, vermittelt über das Smart Phone (Beratung, Produktsuche, Zahlungsoptionen, Beschwerdetools)

o Labels als sicheres Beweismittel für Qualität und Herkunft von Produkten

o Neue Shopformate wie Verkaufsmaschinen und unbemannte Geschäfte. Übrigens, die Unibox von Unimarkt wird von der JKU wissenschaftlich begleitet.

o Erlebnisshopping-Angebote unter Einsatz multisensualer Marketingtools (wie z.B. Düfte).

Unterm Strich bleibt die Erkenntnis, dass die Rückbesinnung auf alte Händlertugenden, gemäß dem alten Meinl-Kundenbegrüßungsritual: "Womit kann ich dienen?" auf den Einsatz digitaler Werkzeuge nicht verzichten kann. Auch wenn künstliche Intelligenz menschlichen Charme gerade im Handel nicht ersetzen kann. Mit Hermann Simon aber müssen wir fragen: Wo nimmt der mittelständische Handel das Geld und die IT-Marketing-Experten her, um bei der Implementierung von Connected Retail mit den Amazons, Zaras und Ikeas gleichzuziehen? Andersrum gefragt: Gibt`s von der EU Zuschüsse für Digitalisierungs- und Innovationsvorhaben heimischer Fachhändler wie Kastner & Öhler, Hervis, Fussl Modestraße oder Humanic? Und: Welche Früchte trägt eigentlich die von der Kammer initiierte Ausbildung zum E-Commerce Kaufmann?

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geschrieben am

26.08.2021