Marken-Multis: für Handel kleine KI-Brötchen
Der alljährliche ECR Tag, der heuer erstmals im Congress Center der Messe Wien stattfand, erfüllt für Handel und Industrie der heimischen FMCG-Branche eine wertvolle Funktion. Er holt internationale Referenten-Stars auf die Bühne, die den Manager-Nachwuchs aus Markenartikelindustrie und Handel in einem Schnellkurs mit aktuellen globalen Trends vertraut macht. Diesmal stand das komplexe Thema Künstliche Intelligenz (KI) auf der Agenda.
Frage: Welche Infos konnten die Youngsters von Spar, Rewe und dm, Darbo, Henkel und Unilever in ihre grauen Zellen einspeisen, um daheim ihren Chefs zu berichten, welches KI-Tools man demnächst im eigenen Unternehmen zum Einsatz bringen sollte? Damit der stationäre Handel und seine Lieferanten im Wettbewerb nicht das Nachsehen gegenüber Amazon haben, dem globalen KI-Schrittmacher und dessen eifrigstem europäischen Verfolger, Schwarz Digital Services.
Eine erste richtungweisende Antwort auf diese Frage liefert der letzte Woche vom EHI veröffentlichte Bericht über Die Megatrends im eCommerce. Gestützt auf die Befragung führender Handelsunternehmen aus der DACH-Region kommt die EHI-Studie zum Ergebnis, dass KI zu den vier Megatrends im Online-Handel zählt. Werkzeuge der Künstlichen Intelligenz würden den Internet-Händlern, den Automative Stores und den Omnichannel-Händlern Verbesserungspotential in den Bereichen Shop Marketing und CRM (Customer Relationship Management), IT (Datenverkehr) und Forecasting (Absatzprognosen z.B. unter Berücksichtigung von Wettervorhersagen) bringen. Hört sich ja schon ganz handfest an.
Jedenfalls kann man daraus den Schluss ziehen, dass KI die IT-gepowerten Betriebsformen des Handels, insbesondere den Internethandel und die Robotic Läden, wo hierzulande Unimarkt ambitioniert mitmischt, im Wettbewerb stärkt und damit den traditionellen Pure Offline-Handel, schlichter formuliert, das herkömmliche Ladengeschäft schwächt. Dessen Hoffnungsträger ist der Konsumententyp der Digitalisierungs-Verweigerer (Offline-Freaks). Kunden, die im Supermarkt bar bezahlen, Kundenkarten ablehnen und auf das Angebot von Handy Apps ablehnend reagieren.
Procter: KI zur Senkung von out-of-Stock hat noch Luft nach oben
Eine sehr ernüchternde Antwort auf die Frage nach dem aktuellen Umsetzungsgrad von KI-Systemen im Einzelhandel lieferte beim ECR Tag Yara Sawalha mit ihrem Vortrag: The Future of Store Experience - Retail at the Center of AI. Im Jahr 1970 lagen die Out-of-Stock-Raten im globalen FMCG-Einzelhandel bei sieben bis acht Prozent vom Umsatz, berichtete Sawalha, Senior Director IT bei Procter & Gamble und zuständig unter anderem für den Einsatz der SAP Supply Chain Systeme. Und wo liegt die o.o.S-Rate heute, im Jahr 2023? Ebenfalls bei sieben bis acht Prozent! Kein Fortschritt in über 50 Jahren fortschreitender Digitalisierung der Warenwirtschaftssysteme in den Supermärkten? Wie ist das möglich, warum klaffen Theorie und Praxis so weit auseinander? Neurowissenschafter Henning Beck brachte in seinem Referat das Problem auf den Punkt mit der Feststellung: „Die Grenzen der Technik müssen erkannt werden, sonst werden wir irgendwann die Suppe mit der Gabel löffeln“.
Out of Stock, auf Deutsch die Ausverkauft-Situation einzelner Artikel im Supermarkt, beschäftigt den Markenartikler viel mehr als den Einzelhändler. „Wenn unsere Marke Head & Shoulders nicht im Regal steht, entgehen uns und unseren Kunden beträchtliche Umsätze“, so denkt man bei P&G. „Stimmt nicht“, sagt der Händler, „denn dann verkaufen wir eben stattdessen ein anderes Shampoo, sei es eine Herstellermarke oder unser, preislich günstiges Private Label“. Das ist auch einer der Gründe, weshalb führende Handelsgruppen ihre eigenen o.o.S-Raten und damit auch den daraus resultierenden Umsatzentgang viel niedriger einstufen, als die Supply Chain-Expertin des US-Markengiganten.
Marken-Loyalität versus Laden-Loyalität
Das bedeutet für den Geschäftsalltag: Wenn Procter einer großen Handelskette den großen ökonomischen Nutzen eines gemeinsamen KI-Projekts zur Senkung der Ausverkauft-Rate in den Märkten schmackhaft machen will, dann bedarf es neben einer KI-überwachten Bestandskontrolle vor allem „wasserdichter“ Daten über die Markenloyalität des Shoppertyps, auf den die Marke abzielt. Übertrifft die Brand Loyalty die Store Loyalty? Das ist die Frage, die sich mit Hilfe des GfK Consumer Panels und ohne den Einsatz von KI-Tools treffsicher beantworten lässt. Und dieser Loyalitäts-Vergleich wird vermutlich in jenen Ländern zugunsten der Herstellermarke ausgehen, in denen diese medial intensiver beworben und am POS durch Promotions und Zweitplatzierungen forciert wird.
Andersrum: Nur wenn ein Markenartikler den Marketingstandort Österreich mit seinem Marketingmix-Orchester in voller Lautstärke bespielt, kann er davon ausgehen, dass KI-unterstützte ECR-Projekte wie jenes zur Reduzierung der Ausverkauft-Rate von Top-Marken bei seinen Key Accounts auf Interesse stoßen. Erst wenn diese Prämisse erfüllt ist, kommt der eigentliche Nutzen von KI zum Tragen. Ein Nutzen, der darin besteht, dass die permanente optische Überwachung des Regals die rechtzeitige, automatische Nachbestellung des Artikels veranlasst und so diesen Job perfekt und zugleich kostengünstig erfüllt
Realistischer ist die Chance der Implementierung von KI in einem Supermarkt, wenn das System eine Vielzahl von Kostensenkungs- und Umsatzsteigerungs-Potentialen abdeckt. Und nicht nur einzelne Problemfelder wie o.o.S, Forecasting oder Food Waste. Das bedeutet in der Praxis, dass KI als ganzheitliche Strategie eines Digitalisierungs- fokussierten Handelsunternehmens viel bessere Erfolgsaussichten hat, als Teillösungen, die vom Lieferanten im Rahmen einer ECR-Partnerschaft den verschiedenen Handelsketten als Service angeboten werden. Der Universal-Zauberkasten KI greift so heftig in die Unternehmensstrategie eines Händlers ein, dass dieser wenig Lust verspürt, diesen Zusatzservice seines Markenartikel-Lieferanten mit seinen Mitbewerbern zu teilen.
Podiumsdiskussion: Geringe Dialog-Bereitschaft über KI in der Supply Chain
Wie wenig sich KI als Projekt einer ECR-Partnerschaft zwischen Industrie und Handel eignet, trat bei der Podiumsdiskussion zutage, die ZIB2-Starmoderator Armin Wolf (sein Twitter-Account zählt knapp 600.000 Followers) ebenso launig wie souverän leitete. Martina Dutzler, Geschäftsführerin von MPreis und Erich Szuchy, Vorstand Category Management und Einkauf bei der Billa AG standen als Repräsentanten des heimischen Handels zwei hochrangigen Managerinnen der internationalen Markenartikelindustrie gegenüber: Nadine Küster ist Generalsekretärin von Danone DACH, Astrid Teckentrup hat den Vorsitz in der Geschäftsführung von Procter & Gamble DACH inne. Quintessenz der Runde: Alle vier Interviewpartner des neugierigen Wolf sprachen über hausinterne KI-Projekte und -Probleme, von vertikaler KI Kooperation zwischen Industrie und Handel war nicht die Rede. Information Sharing zwischen Industrie und Handel, vor rund 15 Jahren in ECR Arbeitskreisen diskutiert, findet, mit Blick auf die revolutionäre KI Technologie so gut wie nicht statt.
Stattdessen beklagte Frau Dutzler, dass MPreis als regionaler Händler über zu wenige Daten verfüge, um daraus Umsatzprognosen abzuleiten. Der Test mit einem bargeldlosen Supermarkt war den Tirolern von der Arbeiterkammer „abgedreht“ worden. Von allen Händlern in Österreich investiert die Rewe die meiste Manpower in Digitalisierungsprojekte. Im Raum Wien laufen bereits sechs Self Scanning Märkte. Szuchy merkt an, dass in Österreich und in Deutschland die gesetzlichen Datenschutz-Auflagen so streng sind, dass dadurch die Möglichkeiten eines Data-based Customer Marketing stark eingeschränkt werden. Onlinehändler wie Amazon täten sich da wesentlich leichter, was auf eine Verzerrung des KI-Wettbewerbs zwischen globalen und lokalen Playern hinausläuft.
Die beiden DACH Managerinnen sprachen vor allem über den konzerninternen Einsatz von KI-Tools. Procter will bis 2030 alle Verpackungen seiner Produkte auf recyclebares Material umrüsten. Ein Mega-Vorhaben bei Danone ist der Ausweis des ökologischen Fußabdrucks entlang der Lieferkette, also unter Einbeziehung der Vorlieferanten. Frau Küster beklagte, dass die Kooperationsbereitschaft des Handels bei der Umsetzung von vertikal durchgängigen Nachhaltigkeitsprojekten stark zu wünschen übrig lasse.
KI im Handel braucht ganzheitliche Strategie
Um die win-win-Potentiale einer kooperativen KI Strategie zwischen Industrie und Handel ist es also in der österreichischen FMCG-Branche schlecht bestellt. Gott sei Dank mangelt es nicht an Alternativen. Da sind beispielsweise die Langzeitprojekte im Kassenbereich in Verbindung mit Electronic Shelf Labels. Sabine Thaler, Gestalterin von Standards, Automatisierung und Digitalisierung und viele Jahre zuvor für die Weiterentwicklung der Checkout-Systeme im Rewe Konzern zuständig, begegnet den Herausforderungen des KI-Zeitalters mit viel Optimismus: "Was in den 2000er Jahren erstmalig im Verkaufsraum der Supermärkte als High Tech Anwendungen wie Self Scanning, Self Payment und elektronischen Regalpreisstreifen begann, setzt sich heute in neuen Geschäftsmodellen mit KI, Extended Reality und Digital Twins in virtuellen Welten und im Web3 fort“, gab sie bei LinkedIn zu Protokoll.
Trost für alle KI-Nachzügler: Künstliche Intelligenz - umgesetzt mit Hilfe spezieller KI-Chips - kann als „Enabling Technology“ die Warenwirtschaftsprozesse optimieren, die Kosten senken, die Effizienz steigern. Aber eine Sortiments-, Beratungs- und Servicestrategie eines Supermarktes nicht ersetzen, die sich hautnah an den kulinarischen, emotionalen und preisfixierten Einkaufserwartungen seiner Kunden orientiert.