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Hanspeter Madlberger: Markenartikel - Drohender  Kahlschlag?

Markenartikel: Drohender Kahlschlag?

Herstellermarken weichen in Zeiten angeheizter Inflation den expansiven Budget-Eigenmarken des Handels. Welche Folgen hat dieser Abtausch bei den Sortimenten für die Marketingkooperation zwischen Händlern und Herstellern?

Bericht: Hanspeter Madlberger

Wie Mark Schneider, Chef des Nestlé Konzerns vor einigen Wochen bekannt gab, nimmt der weltgrößte Nahrungsmittel-Multi zurzeit eine radikale Straffung seiner Supermarkt-Sortimente vor. 2022 hat Nestlé laut Handelsblatt-Bericht vom 19. Mai bereits ein Fünftel seiner Produkt-Varianten aufgelassen, heuer sollen weitere zehn Prozent aus den Supermarkt-Regalen verschwinden. Durch diese Maßnahmen schrumpft die weltweite Gesamtzahl an Nestlé-SKUs von über 100.000 um ein Drittel auf knapp 70.000. Die Umsatzfolgen dieser Bereinigung sind freilich überschaubar. Wie die Marktforschung herausbekommen hat, steuert das untere Drittel der Nestlé-Penner-Artikel gerade einmal ein Prozent (!) zum Gesamtumsatz des weltgrößten Nahrungsmittel-Produzenten bei, der zuletzt bei 94 Milliarden Schweizer Franken lag.

Von der Sortimentsdynamik des Markenartikel-Multis in früheren, „normalen“ Zeiten unterscheidet sich dieser Vorgang in einem wesentlichen Punkt. Ging es damals für Nestlé und Kollegen vor allem darum, Ladenhüter durch Innovationen zu ersetzen und mit Hilfe dieser Rotation die Vitalität der Marken und zugleich den Gesamtumsatz zu steigern, so liegt aktuell das Momentum der Sortimentsumschichtung nicht bei den Hersteller- sondern bei den Handelsmarken.

GfK Österreich: Im ersten Quartal 23 stiegen Handelsmarken- und Aktionsanteile im TS-Bereich 

Preiseinstiegs-Private Labels wie S-Budget oder Clever, die generischen Eigenmarken von Hofer, Lidl und Penny setzen den Herstellermarken verstärkt zu. Das belegen topaktuelle Daten des GfK Haushaltspanels über die Einkäufe in den heimischen LEH/DFH, die retailreport.at vorliegen:

  • So stieg der Umsatzanteil der Handelsmarken (FMCG exkl. Frische) im ersten Quartal 2023 auf 39,1%. Im Jahresschnitt 2022 lag dieser Wert bei 36,0%.
  • Parallel dazu stieg auch der Aktionsanteil (Promo-Share Value FMCG exkl. Frische) von 34,4% im ersten Quartal 2022 auf 35,6% in Q1/2023.

 

GfK Deutschland: Aktionen pushen Handelsmarkenumsätze, Kurantverkäufe bei Herstellermarken stagnieren trotz Inflation

Differenzierter fällt die Diagnose über die Marktanteilsverschiebungen zwischen Hersteller- und Handelsmarken und die steigende  Bedeutung der Aktionsumsätze aus, die GfK-Marktforscher Robert Kecskes mit Blick auf den deutschen LEH kürzlich gegenüber der LZ bekannt gab.

  • Demnach verzeichneten die Eigenmarken von Edeka, Rewe, Lidl, Aldi & Co. im ersten Quartal 2023 ein Umsatzwachstum von 20,8%, wobei die Kurantverkäufe um 17,5%, die Aktionsverkäufe jedoch um 49,9% stiegen.
  • Im Gegensatz dazu legten die Herstellermarken in diesem Zeitraum im deutschen LEH nur um 4% zu, wobei das Wachstum ausschließlich auf die um 15,9% gestiegenen  Aktionsumsätze zurückzuführen ist. Die Kurantverkäufe der Markenklassiker stagnierten trotz der rasanten Inflation auf Vorjahresniveau, gingen also, in Mengen gerechnet, deutlich zurück.

Real sinkende Umsätze bei steigenden Kosten, die der Energiekrise geschuldet sind und sinkende Margen infolge der erhöhten Promotion-Anteile, die ja von der Industrie nolens, volens mitfinanziert werden (müssen), ließen bei den Markenartiklern die Alarmsirenen aufheulen. Die nahe liegende Reaktion: Auflassung der Ladenhüter mit dem Ziel, durch diese Straffung die Komplexität des Sortimentes zu reduzieren, solcherart Kosten einzusparen und dadurch den Shareholdern weiterhin gute Dividende in Aussicht zu stellen.   

Neben Nestlé haben unter anderen auch Unilever, Bahlsen und Haushalts-Helfer Spezialist Vileda Maßnahmen der Sortimentsstraffung ergriffen. Unilever kürzte 2022 die Artikelanzahl global um 10%, bis 2025 sollen allein in Körperpflege-Kategorien 5000 Varianten dem Rotstift zum Opfer fallen. Bahlsen ließ verlauten: „Vor dem Hintergrund der immens gestiegenen Kosten haben wir uns entschieden - wie andere Konsumgüterhersteller auch - konsequent aus unprofitablen Aktivitäten auszusteigen.“

EBITDA-Margen in  D 2022: Marken-Multis 19,8%, Große Lebensmittelhändler: 6,3% 

Die börsennotierten Markenartikel-Multis ziehen bei der Sortimentstiefe die Reißleine. Und das in einer Phase durchaus herzeigbarer Umsatz-Renditen. Dabei ist der Zeitfaktor zu beachten. Umsatzverschiebungen im Match zwischen Hersteller- und Handelsmarken sind, wie die genannten GfK-Daten belegen, kurzfristig verfügbar. Allfällige Verschiebungen bei den Margen  zwischen Produzenten und Händlern, die auch Hinweise auf Inflationsgewinner und  -Verlierer liefern, werden hingegen Monate später offenbar, nämlich dann, wenn die Unternehmen ihre Bilanzen über das abgelaufene Geschäftsjahr vorlegen.

Das Consulting-Unternehmen Oliver Wyman hat die Bilanzen 2021 und 2022 von 25 Konsumgüterkonzernen in Deutschland analysiert und kam dabei zum Ergebnis, dass das EBITDA dieses Samples mit einem Gesamtumsatzvolumen von 105,2 Milliarden Euro im Jahr 2021 auf 118,5 Mrd. Euro im Jahr 2022 gestiegen ist. Das ergibt, gemessen am Nettoumsatz einen Anstieg der EBITDA-Marge von 19,3 auf 19,8%.

Bei 20 namhaften deutschen Lebensmittelhändlern, deren Umsatz- und Ertragsdaten in den Wyman-Report einflossen, hingegen betrug die EBITDA-Marge im Jahr 2021 nur 6,3% von Nettoumsatz, sie stieg 2022 leicht auf 6,4%. Nun ist das EBITDA nicht mit dem Reingewinn gleichzusetzen, weil diese Kennzahl neben dem EGT auch die Kosten für Zinsen, Steuern und Abschreibungen mit einschließt.

Allgemein aber gilt aus betriebswirtschaftlicher Sicht: Ob EBITDA oder EGT: Die Erträge, gemessen am Umsatz, sind auf der Produktionsstufe von Natur aus höher als auf der Distributionsstufe. Weil die Herstellung in der Regel einen höheren Beitrag zur Gesamtwertschöpfung leistet, als die Warenverteilung über die Filialsysteme im Einzelhandel. Discounter weisen eine niedrigere Wertschöpfung auf als Vollsortimenter. Trotz all dieser strukturellen Unterschiede wird seitens der Handelszentralen in D wie in A seit vielen Jahren regelmäßig ins Treffen geführt, dass die Markenartikelindustrie deutlich höhere Nettomargen erwirtschaftet als der LEH. Womit, taktisch äußerst clever, der Versuch unternommen wird, im aktuellen öffentlichen Inflationspalaver den Schwarzen Peter der „Gierflation“ den Markenartikel-Lieferanten in die Schuhe zu schieben. Anderseits muss man in Rechnung stellen, dass mittelständische österreichische Händler von der internationalen Markenartikelindustrie nicht immer zu europäischen Bestkonditionen beliefert werden. Seit Jahren werden im Hauptquartier der Spar Österreich Fälle von Geo-Blocking aufmerksam registriert. Diskriminierung im Beschaffungswettbewerb, ein besonders brisanter Aspekt  in der Inflations-Verursacher-Debatte und hoffentlich auch ein Forschungsgebiet der Wettbewerbsbehörden.

Repräsentanten der Markenartikelindustrie begegnen den Inflations-Schuld-Zuschreibungen seitens des Handels an ihre Klientel mit dem Argument, die Preise bei den Handelsmarken seien in den letzten Monaten deutlich stärker gestiegen, als bei den Herstellermarken. Die Retourkutsche aus dem Händlerlager lässt nicht auf sich warten. Bei der Inflations-Diskussionsrunde in  ORF 3 vom 12. Juni replizierte Handelsverbands-Geschäftsführer Rainer Will in Richtung  MAV-Geschäftsführer Günter Thumser, der höhere Preisanstieg bei den Billighandelsmarken sei ein reiner Rechentrick. Nämlich darauf zurückzuführen, dass im Budget-Preissegment die gestiegenen Energiekosten prozentuell deutlich stärker zu Buche schlagen als im hochpreisigen Markenartikel (= Premium-) Segment. Mit Inflations-Beschleunigung habe das nichts zu tun.

Mittelständische Produzenten in der  Ertragsklemme?

Für einen echten Aufreger sorgt  hingegen Oliver Wyman mit der Meldung, dass die EBITDA-Marge von mittelständischen deutschen Herstellern (Produzenten mit weniger als einer Milliarde Euro Jahresumsatz) von 12,5% im Jahr 2021 auf 11,7% im Jahr 2022 gesunken ist. Das bedeutet im Klartext. Es sind die mittelständischen Lebensmittelproduzenten, die, was die Erträge betrifft, viel stärker als die Marken-Multis unter dem Vormarsch der Handelsmarken leiden. Und da sich unter diesen Firmen zahlreiche befinden, die selber neben ihren Herstellermarken auch Handelsmarken produzieren, drängt sich der Verdacht auf, dass da auch für Österreichs Lebensmittelindustrie und -gewerbe eine Zeitbombe tickt. Ein strukturelles Problem, das niemanden in der Branche kalt lassen sollte. Den MAV, den Fachverband der Nahrungsmittelindustrie, die VÖM als Plattform der Milchverarbeiter. Aber auch nicht die Marketingstrategen in den Zentralen der Vollsortimenter, die beides brauchen: Eigenmarken-Produzenten, die kostengünstig arbeiten und Markenartikel-Lieferanten, die die durch innovatives Branding  dafür sorgen, dass die Umsatzdynamik in den einzelnen Kategorien trotz Inflation wieder an Fahrt aufnimmt.

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geschrieben am

19.06.2023