"Damit hat wohl keiner gerechnet"
Vor sechs Jahren übernahm Rainer Will als Geschäftsführer den unabhängigen Handelsverband mit einigen Mitarbeitern und mehr oder weniger aktiven Mitgliedern. Mitarbeiter sind es nach wie vor nur acht, aber die Mitgliederzahl hat sich in den sechs Jahren verzehnfacht. Warum, das hört man aus der Branche selbst: der Handelsverband ist bedingungslos für die Branche da, er ist eine überparteiliche Interessensvertretung, die sich auch mal mit der Politik anlegt, aber dennoch gute Kontakte mit ihr unterhält, Lobbying betreibt und die strategischen Interessen der Händler vertritt. Lobbying ist in unseren Breitengraden nicht so bekannt wie in den angloamerikanischen Ländern, es wird aber immer wichtiger, wenn man an das mehr oder weniger sanfte Diktat der EU denkt.
Handel in Veränderung
Die Vertretung der Handelsbranche ist eine Herausforderung: der Handel ist in Veränderung, er ist nicht homogen, sondern hat viele verschiedene Branchen. Diese sind auch unterschiedlich aufgestellt, was die Marktmacht betrifft. Groß und klein, aber auch filialisiert und selbstständig. Und seit fast genau einem Jahr gesellt sich ein wichtiges Attribut dazu: offen oder geschlossen, denn Corona und Lockdowns zwingen sehr viele Händler in die Knie. „Wir müssen in allen Situationen für die Händler da sein und das ist gerade in Lockdown-Zeiten sehr intensiv. Stellen Sie sich vor, dass sie ihr Geschäft rund um Weihnachten schließen müssen oder nicht wissen, wo sie von heute auf morgen die gesetzlich verpflichtenden Masken herbekommen“, so Rainer Will. Und dann noch der tägliche Austausch mit der Politik: vom Landwirtschaftsministerium übers Finanz-, Digital- Arbeits- und Gesundheitsministerium bis hin zum Bundeskanzleramt. Die Themen sind vielfältig und drehen sich zurzeit zu 99% um ein Thema: das Überleben der einzelnen Händler.
„Wir haben genügend Konzepte, wie man den Handel allgemein auch in schwierigen Zeiten aufsperren kann. Da spielen die richtigen Masken, Abstand, aber auch das aktive Besuchermanagement eine Rolle – alles ist besser als eine Sperre. Denn der Handel verliert im Schnitt bis zu 1 Mrd. Euro pro Woche an Umsatz im harten Lockdown“, erklärt Will. Im Lockdown light, der uns ab 8. Februar wieder erwartet, sind es „nur“ 250 Mio. Euro/Woche.
Für ihn geht es um eine Differenzierung. „Wir müssen den Handel von anderen Branchen differenzieren! Bei uns ist alleine aufgrund der kurzen Verweildauer und des losen Kundenkontakts ein Ansteckungsrisiko beträchtlich minimiert“. Der Handelsverband koordiniert die Versorgungsmeldungen im „Kernkrisenstab Lebensmittel“ hin zur Bundesregierung, die größten Lebensmittelhändler sind als kritische Infrastruktur hier vertreten, um zu prognostizieren, wie lange die einzelnen Lebensmittel für die Versorgung der Bevölkerung vorgehalten werden können
Düstere Prognose
Viele Hilfen kommen nicht schnell genug an und wenn, dann decken sie in manchen Fällen gerade die Grundbedürfnisse. Es geht aber um deutlich mehr: um das Bezahlen der Gehälter der Mitarbeiter, der Miete und auch der nicht verkauften Ware. Der Handel hat nun einmal einen Wareneinsatz und den gilt es zu berechnen.
„Lockdown I hatte 24 Einkaufstage geschlossen, für Geschäfte über 400 m2 sogar 39 Einkaufstage. Das war das Ostergeschäft. Lockdown II brachte 17 Einkaufstage Einbußen – das war Black Friday und das Vorweihnachtsgeschäft und Lockdown III mit 34 Einkaufstagen betraf das Weihnachtsgeschäft an sich“, rechnet Will nach. Die Zeitpunkte waren damit schlecht für die Branche.
Zusammenhänge sehen
Auch ein Lockdown light ist für den Handel ein Desaster, denn es fehlt die Gastronomie als Frequenzbringer. „Das Kaufverhalten kann man nicht wie einen Lichtschalter auf und abdrehen“, beschreibt Will den Zusammenhang mit der Verweildauer. Aufgrund der Vielzahl an Mitgliedern – es sind nun mehr als 4000 im Handelsverband – kann man auch repräsentative Studien machen. Die jüngste Studie sagt: jeder zweite Händler hat Existenzängste, fast jeder dritte kann seine Rechnungen nicht bezahlen, jeder fünfte konnte die Weihnachtsgelder nicht auszahlen – 10.000 Handelsunternehmen sind zahlungsunfähig. 42.890 Unternehmen aus dem Handel gibt es in Österreich – also geht es einem beträchtlichen Teil nicht gut. Damit wackeln 100.000 Jobs. „Je länger die Lockdowns dauern, desto mehr vitale Unternehmen trifft es auch“, so Rainer Will. „Wir machen uns Sorgen um die Unternehmen, denn nicht das Virus kostet Arbeitsplätze, sondern die zu langsame und bürokratisch aufgesetzte Hilfe“. Nicht umsonst hat man die Corona-Petition #arbeitsplaetzeretten ins Leben gerufen, die bereits knapp 7000 Unterstützer zählt.
Motto 2021
Das Motto 2021 muss für den Handel heißen: Leben und Wirtschaften MIT dem Virus, denn so kann es nicht weitergehen. „Wir pochen auf strikte Sicherheitsregeln und tragen diese sehr gerne mit, aber meine Bitte an die Politik – mit Nachdruck: lasst die Geschäfte nachhaltig offen!“. Es ist Zeit, eine Differenzierung der Branchen im Lockdown zu sehen. „Wir gewähren 2 Meter Abstand und eine Begrenzung der Kundenzahl auf 1 Kunden pro 20 m2 im Non-Food Handel“. Der erste Kontakt mit einem Mitarbeiter ist vielfach erst der Kontakt an der Kassa.
Zeichen erkennen
Die Sparquote hat sich verdoppelt, 40% aller Österreicher müssen sich einschränken in Zukunft. 10% der Kunden reduzieren sich auf rein lebensnotwendige Güter, über vier Mio. Erwerbstätige sind verunsichert. All diese Zahlen erfordern eine rasche Stabilisierung der Wirtschaft und vor allem des Handels.
Konzept der Belohnung
„Es hat in Wien mit den Gastro-Gutscheinen funktioniert, warum soll es nicht im Handel klappen: 50 Euro für jeden und jede, die sich vor dem Shopping testen lassen. Die Vorteile liegen auf der Hand: die Aktion ist aktivierend und emotional, sie schafft ein Ausgabevolumen von 180 Mio. Euro, 40 Mio. Euro gehen davon ans Finanzministerium als Mehrwertsteuer und weitere 40 Mio. Euro als Umwegrentabilität“, so Will. Man braucht im Handel Planungssicherheit, da ist man sehr nahe an den Schulen, die sich ebenfalls mit dem ZickZack-Kurs schwer tun.
Und: die zugesagten Hilfen müssen treffsicherer werden und sich nicht durch bürokratische Hürden weiter verzögern „Kleine Händler, die expandiert haben, leiden unter niedrigen Bemessungsgrundlagen. Indirekt betroffene Händler, etwa der Lebensmittelgroßhandel, können noch nicht einmal Hilfen beantragen“, klagt Will.
Nicht zuletzt fordert man eine zweite Chance für Unternehmen, die unverschuldet Corona-bedingt in Insolvenz gegangen sind.
Viele Themen im Anschluss
Traurig ist, dass viele Themen, die den Handel betreffen, ins Hintertreffen geraten: Abschaffung der Mietvertragsgebühr, Einrichtung einer Ombudsstelle mit den Bauern (Lebensmittelhandel), PSD2 und die Besteuerung von Paketen aus dem Ausland. Trotz enormer Anstrengungen, die Corona-bedingt auftauchen, leistet man auch in diesen Themenfeldern permanent Unterstützung für die Mitglieder.