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Handel setzt die Benchmarks im Wertschöpfungs-Wettlauf

Handel setzt die Benchmarks in Wertschöpfung

Dr. Hanspeter Madlberger hinterfrägt jetzt nach der Corona-Depression, wie man die Inlands-Wertschöpfung steigern kann.

Darin sind sich Wirtschaftsprofessoren, Politiker und Unternehmer einig. Nach dem heiß ersehnten Ende des Lockdowns führt beim Wiederaufbau unserer Wirtschaftsleistung kein Weg an einer Steigerung der Inlands-Wertschöpfung vorbei. Finanzminister Gernot Blümel wagte dieser Tage die Prognose, dass Österreichs Wirtschaft in den kommenden Sommermonaten ihre Wertschöpfung um sage und schreibe 20 Milliarden € steigern werde. Da drängt sich die Frage auf: Wie kommt dieser Kraftakt zustande? Und: Welchen Beitrag zum BIP und damit zur Steigerung von Einkommen, Beschäftigung und Budgetsanierung leistet unser Handel?

Es geht gerade jetzt, da die Jahrhundert-Wirtschaftskrise ihre Talsohle überwunden hat, darum, den Stellenwert des Handels in der Gesamtwirtschaft zu verorten. Die Frage klingt harmlos, birgt aber allergrößte standespolitische Brisanz. Denn bei näherer Betrachtung kommt man zum Ergebnis, dass die Lobbyisten der Land-, der Tourismus- und der Exportwirtschaft die Wertschöpfung ihrer Sparten in den schönsten Farben schildern, vor maßlosen Übertreibungen ("Tourismus kommt für 15 % des BIP auf", "jeder zweite Arbeitsplatz hängt vom Export ab") nicht zurückschrecken, während die Handelsfunktionäre sich bei diesem zentralen Thema seit Jahren  ausgesprochen "schmähstad" verhalten.

Daher ist es hoch an der Zeit, dass Österreichs Handel, speziell der systemrelevante und deshalb weitgehend krisensichere Lebensmittelhandel sein Wertschöpfungs-Licht nicht länger unter dem Scheffel verbirgt. Diese Forderung ist umso mehr gerechtfertigt, als jeder Buchhalter aus den Bilanzdaten seiner Firma die Unternehmens-Wertschöpfung innerhalb weniger Minuten errechnen kann. Es zählt zu den großen Rätseln der PR-Praxis in heimischen Handelszentralen, warum diese zentrale Produktivitäts-Kennzahl hierzulande so gut wie nie publiziert wird. Obwohl die Wertschöpfungs- (kurz: WS-) Rechnung in der Regel reichlich positiven Input für den Corporate Social Responsibility-Report liefern könnte.

Coop Schweiz und Migros als Blaupause für  WS-Diskurs im heimischen Handel

Aber es geht auch anders: Fündig in Sachen Wertschöpfungsrechnung sind wir bei Durchforstung der Jahresberichte der beiden großen Schweizer Handelsunternehmen  Migros und Coop CH geworden. Ihre in den jüngsten Bilanzen veröffentlichten WS-Berechnungen lassen sich als Blaupause für heimische Handelsunternehmen heranziehen, wenn diese, gestützt auf seriöse Unternehmensdaten im öffentlichen post-Corona-Dialog ihre Stimme erheben.

  • Die Coop CH-Gruppe, die mit ihrer Gastro-GH-Tochter Transgourmet auch in Österreich  tätig ist, weist für 2019 
  • Nettoerlöse von 29,6 Mrd. CHF (Schweizer Franken) aus. Das Unternehmen umfasst neben Einzel- und Großhandelsfirmen auch Produktionsbetriebe (wie z.B. Bell Foods).
  • Der Wareneinsatz lag, zusammen mit den übrigen zugekauften Vorleistungen bei 22,4 Mrd. CHF.
  • das ergibt eine Bruttowertschöpfung von 8,3 Mrd. CHF, 
  • abzüglich der Abschreibungen in Höhe von 1,3 Mrd. CHF
  • kommt die Coop CH damit auf eine Nettowertschöpfung (auch Unternehmens-Wertschöpfung genannt)  von 7,0 Mrd. CHF.
  • Das ist, gemessen am Umsatz eine Wertschöpfungsrate von 23,7%.

Hauptmitbewerber Migros, ebenfalls ein mit Industriebetrieben angereicherter Handelskonzern, kam 2019 bei einem Umsatz von 27,3 Mrd. CHF auf einen Nettowertschöpfung von 6,86 Mrd. CHF, was, gemessen am Umsatz, eine WS-Rate  von 25,1% ergibt.

Ein vor Jahren in Deutschland erschienenes Fachbuch über Wertschöpfung im Lebensmittelhandel bestätigt, dass WS-Raten zwischen 22% und 25 % auch beim großen Nachbarn branchenüblich sind. Wobei die WS-Rate der Food-Discounter im Durchschnitt um ca. zwei Prozentpunkte niedriger ist, als jene der bedienungsintensiven Supermärkte. Der Satz: "Discount steht für Wertvernichtung" (Copyright: Christof Kastner) hat schon was für sich. Und trifft in noch höherem Maße auf den internationalen Onlinehandel zu, der systemimmanent die "Digitalfahrt" der Konsumgüterpreise und damit ein Wertschöpfungs-Minus nach sich zieht.

Auf die Verwendung der Wertschöpfung kommt es an

Warum ist die Unternehmens-Wertschöpfung im wirtschaftspolitischen Dialog eine viel aussagekräftigere Kennzahl als der Umsatz oder der Gewinn? Eine schlüssige Antwort auf diese Frage liefert der Blick auf die Habenseite der Wertschöpfungsbilanz, die über die Verwendung des erwirtschafteten Mehrwerts Auskunft gibt.

  • Nicht weniger als 73,3% der Coop-Wertschöpfung fließen in Form von Löhnen und Gehältern den Mitarbeiterinnen und Mitarbeitern des Unternehmens zu.
  • Bei der Migros beträgt diese Quote sogar 85,5 %.

Zweiter großer  Nutznießer hoher Wertschöpfung ist Vater Staat. Die Steuern (Einkommensteuer, Mehrwertsteuer-Zahllast) und Gebühren, die die helvetische Coop an die öffentliche Hand entrichtet,  machen 17,0% der erbrachten WS aus. Die Migros, weil deutlich ertragsschwächer als der Lokalrivale, liefert weniger Geld an den Fiskus ab. 2019 war die Steuerquote mit 10,4% der WS besonders niedrig, 2018 lag dieser Wert bei 13,4%. Eine selbstauferlegte "Steuer" der Migros ist die vom Gründer Gottlieb Duttweiler in den Statuten verankerte Kulturförderung (das sogenannte "Kulturprozent").  2019 belief sich diese Spende an die Allgemeinheit für Bildung und Kultur auf 118 Millionen Fränkli.

Wie es sich für Genossenschaften gehört, wird nur ein bescheidener Teil der Wertschöpfung für Selbstfinanzierungs-Zwecke einbehalten: Die Coop legte 2019 7,6% der WS auf die hohe Kante, bei Migros  waren es 2019 magere 1,8% , 2018 immerhin 4,7%.

Unterschiede und Parallelen zwischen CH und A

Zusammenfassend kann man festhalten, dass die beiden "Eidgenossenschaften" als (Lebensmittel-)  Groß- und Einzelhändler einen Mehrwert erzielen, der zum allergrößten Teil dem Faktor Arbeit zugute kommt, aber auch, im Sinne christlicher Sozialverantwortung dem "Kaiser (sprich dem Fiskus) gibt, was des Kaisers ist". Und die eiserne Reserve, die im Unternehmen bleibt, stärkt die Unabhängigkeit gegenüber dem Finanzkapitalismus, was ja in Zeiten verrückt spielender Börsen kein Nachteil ist.

Natürlich lassen sich die Wertschöpfungs-Kennzahlen der Schweizer Konsumgenossenschaften nicht 1:1 auf  österreichische Handelskonzerne in Familienhand (wie die Spar AG) oder auf die Auslandstochter einer deutschen Händlergenossenschaft (wie die Rewe) übertragen. Kleines Beispiel: Die Anteile der Eigenproduktion und damit auch die Anteile der Eigenmarken an der gesamten Wirtschaftsleistung sind bei Migros und Coop  besonders hoch.

Wer einen flüchtigen Blick auf die Konzern-Gewinn- und Verlustrechnung 2019 unserer Spar Holding AG wirft, kann leicht feststellen, dass die Nettowertschöpfungs-Rate der Salzburger höher ist als jene der Coop CH und der Migros. Als ein mit kaufmännischer Vorsicht geführtes Familienunternehmen weist die Spar Holding AG einen höheren Selbstfinanzierungsgrad auf als die beiden Schweizer Genossenschaften. Der Anteil der Arbeitnehmereinkommen (inkl. Sozialabgaben) an der WS-Verwendung  liegt auch bei der Spar deutlich über der 50%-Marke.

Es gibt ja auch beim Leistungsprofil viele Parallelen zwischen den LEH-Vollsortimentern in den beiden Ländern.  In A wie in CH sind regionale Lebensmittel-Herkunft und starkes Nachhaltigkeits-Engagement Kernelemente der Händler-Strategien. Und: In beiden Ländern hat der lokale Handel sich einem zweifachen Konkurrenzdruck zu stellen: Den massiven Bestrebungen globaler Internet-Konzerne und vieler internationaler Markenartikler, Wertschöpfung aus den vergleichsweise kleinen Absatzmärkten A und CH abzuziehen und Steuerleistung in Steueroasen zu verlagern. Im Falle Amazon wird dieses Problem hierzulande bereits heftig diskutiert. In der Schweiz sieht man das Problem entspannter, weil der US-Internetriese bislang weniger eine D-A-CH-, sondern eher eine D-A-Absatzstrategie verfolgt.

Wertschöpfungs-Konkurrenz oder -Partnerschaft?

Was die  Anzahl der Marken-Multis betrifft, hat Österreich nur ein Vorzeigeunternehmen, nämlich Red Bull vorzuweisen, die Schweiz beherbergt immerhin Global Players wie Nestlé, Novartis oder Lindt. Ob der Sitz der Konzernzentrale viel in die lokale Wertschöpfung einzahlt, ist freilich eine andere Frage. Wie umgekehrt eine von der Konzernspitze angeordnete, dezentrale Produktion (in A vorbildlich von Heineken umgesetzt) beweist, dass Globalisierung und Stärkung der lokalen Wertschöpfung durchaus vereinbar sind.

Allgemein gilt ja im Handel  die Formel: Je höher die Rückwärtsintegration durch Eigenproduktion, Abhollogistik und Eigenmarken, desto höher der eigene Wertschöpfungs-Grad. Wenn die Repräsentanten von Landwirtschaft und Lebensmittelindustrie die Wertschöpfungs-Steigerung durch Vorwärtsintegration insbesondere durch Online- Direktvermarktung ("Gutes vom Bauernhof", Nespresso etc.) propagieren , dann sind solche Strategien, ganz unabhängig von Corona, Ausdruck des wachsenden vertikalen Wettbewerbs entlang der Supply Chain. Von Value Chain, dem gemeinsamen Bemühen um Wertschöpfungssteigerung im Sinne einer ECR-win-win-Kooperation ist im gegenwärtigen, aufgeheizten Wirtschaftsklima kaum etwas zu spüren. Dass beide Seiten da über ihre Schatten springen, wäre jedenfalls im post-Corona-Sommer 2021 äußerst wünschenswert. Ein erster Schritt wäre die Offenlegung der Wertschöpfungsrechnungen durch die namhaften Firmen. Ein zweiter die Steigerung der inner- und zwischenbetrieblichen Wertschöpfung durch eine Qualitäts- und Serviceoffensive. Natürlich im Einvernehmen mit den Konsumenten, die diesen Mehrwert honorieren, indem sie bereit sind, dafür einen höheren Preis zu bezahlen.

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geschrieben am

21.05.2021