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MondayMemo

Europas Supermärkte starten ins Hybrid-Zeitalter

In der D-A-CH Region rüsten Rewe, Migros-Tochter Tegut, Edekas Netto Discountläden und Andreas Haiders Unimärkte zur Abwehrschlacht gegen den Europa-Rollout der kassenlosen Amazon Go-Läden.

Kommentar von Hanspeter Madlberger

Die kommende EuroShop 2023 in Düsseldorf verspricht, eine aktuelle Bilanz über die sich beschleunigende Connected Retail-Entwicklung in Europas Einzelhandel zu ziehen. Allerdings: Die Video-Überwachung in den autonomous stores und Hybrid-Märkten sorgt für Aufregung unter Konsumentenschützern.

Nicht weniger als 400 Video-Kameras zieren die Decke des Anfang November in Berlin, Schönhauser Allee eröffneten, 380 m2 großen Rewe Hybrid-Supermarktes mit seinem Sortiment von 9.500 Artikeln. In den Regalen sind mehr als 1.000 Gewichtssensoren  installiert. Auf diese Weise können jene Kunden, die Rewes "Pick & Go"-App auf ihr Smartphone geladen und dort auch ihre Kreditkarte hinterlegt haben, ihren Einkauf tätigen, ohne sich danach an der Kasse anstellen zu müssen. "Anmelden, einkaufen, rausgehen" lautet der Claim, mit dem die Kölner Händlergenossenschaft den Zeitgeist-Genossen vom Prenzlauer Berg ein Maximum an Einkaufskomfort verheißt.

Darüber hinaus wartet dieser Hybrid Markt mit zwei Neuerungen  auf: Anders als der erste Pick & Go-Pilotmarkt in Köln verfügt er auch über eine Obst- und Gemüse-SB-Waage sowie einen Pfand-Automaten. Die Kunden können zwischen  herkömmlichem Einkauf (mit Bezahlung an der Kasse) und dem kassenlosen Pick & Go-System wählen. Entscheiden sie sich für Letzeres, wird ihnen kurz nach dem Verlassen des Marktes der Einkaufsbetrag automatisch vom Konto abgebucht, gleich danach scheint der Kassenbon auf dem Handy-Display auf.

Amazon-Konkurrenz setzt auf Kostenvorteil dank Trigo

Das digitale Equipment von Kameras, Sensoren und einem sechs Kilometer (!) langen Kabelnetzwerk stammt, wie die  Frankfurter Allgemeine Sonntagszeitung (FAS) vom 27. November berichtet, von der, in Tel Aviv ansässigen Firma Trigo Vision Ltd. Dabei wird im Computer ein 3-D-Modell des Marktes erstellt, das sämtliche Bewegungen abbildet. Insbesondere die  Warenentnahme aus dem Regal  und eine etwaige Wiedereinschlichtung. Computer Vision nennt sich diese digitale Parallelwelt, die den stationären Handel mit Künstlicher Intelligenz massiv anreichert. Rewe legt Wert auf die Feststellung, dass das System den einzelnen Kunden nur konturhaft erfasst, es finden weder Gesichtserkennung noch die Aufzeichnung anderer biometrischer Daten statt. Die Videoaufnahmen werden zunächst sechs Stunden im Computer des Marktes gespeichert, anschließend wandern die Bilder verpixelt in die Cloud, wo sie spätestens nach zehn Tagen gelöscht werden.

Konsumentenschützer warnen vor "Überwachungskapitalismus"

Ungeachtet dieser umfangreichen Maßnahmen, die die Anonymität des Kunden beim Einkauf im Hybridmarkt sicherstellen sollen, wittern Konsumentenschützer bei den autonomen Läden die Gefahr des Missbrauchs aufgezeichneter Daten. Dergestalt, dass diese dem Händler Rückschlüsse auf das individuelle Konsumverhalten der Kunden ermöglichen. Die FAS zitiert dazu die US-Wirtschaftswissenschafterin Shosana Zuboff, die in solchen, durch KI ermöglichten Kundenverhaltens-Analysen "das zentrale Geschäftsmodell des Überwachungskapitalismus (!)" erblickt. Starker gesellschaftspolitischer Tobak, der zwar in erster Linie auf das data based Marketing  von Onlinehändlern, wie Amazon abzielt, aber auch Wasser auf die Mühlen europäischer Konsumentenschützer-Lobbies und Kapitalismus-Kritiker lenkt, die allen Verkaufsförderungsaktivitäten des Einzelhandels reflexartig pure Profitgier unterstellen.

Edeka Netto und Migros Teo sind in D mit von der Partie

Auch die Edeka-Tochter Netto Markendiscount arbeitet in ihrem, bereits im  Dezember 2021 eröffneten, 250 m2 großen Pick & Go-Pilotmarkt  in München/Schwabing mit Trigos zusammen. Um dem Verkaufverbot von Tabak und Alkohol an Jugendliche Rechnung zu tragen, wird  in diesem Markt über die App auch das Alter der Kunden verifiziert und digital eingespeichert. Dass sich neben Rewe und Edeka auch Aldi Nord und Tesco für das Trigo-Modell entschieden haben, ist nach Expertenmeinung  auf den deutlich niedrigren Preis zurückzuführen, den die Firma aus Israel im Vergleich zu Amazon-Partnern aus dem Silicon Valley anzubieten hat. Immerhin dürfte es zur Zeit europäischen Einzelhändlern gelingen, dank dieses Kostenvorteils, den  Vormarsch von Amazon Go auf dem alten Kontinent einzubremsen.

Zu den Pionieren beim Miniformat der autonomen Läden, den Container-Boxen zählen die Teo-Märkte der Migros-Tochterfirma Tegut. Bereits im November 2020 eröffnete das Unternehmen seine erste 50m2 große Teo Box. Mittlerweile  haben bereits 10 dieser Mini-Supermärkte im Landkreis Fulda den Betrieb aufgenommen, die Gesamtzahl der Standorte soll heuer auf 20 anwachsen. Die erste Box außerhalb des ländlichen Raumes befindet sich am Bahnhof von Aschaffenburg. Migros hat das Teo-Konzept kürzlich in die Schweiz transplantiert. Ende Oktober öffnete der erste Markt in Bürglen.

Haiders Uni Boxen in Augenhöhe mit den Deutschen

Eine ähnliche Pionierfunktion wie Teo in Deutschland und der Schweiz erfüllen die UniBoxen der Unimarkt-Gruppe in der österreichischen Nahversorger-Szene. retailreport.at berichtete darüber mehrfach. Wie uns Uni-Geschäftführer Robert Knöbl mitteilte, sind zur Zeit bereits 17 Uni Boxen in Betrieb. Die jüngste wurde in Wernberg eröffnet, zuvor startete der autonome Mini-Supermarkt in einem Waggon am Gelände der Linzer Tabakfabrik.

Auch die Uni Boxen arbeiten nach dem Pick & Go-Prinzip, also cashless, die Erfassung des Einkaufs und die Bezahlung erfolgen wahlweise über App oder Bankomatkarte. Die Videokamera, die in der Box montiert ist, dient vor allem als Alarmanlage, zum Schutz vor Vandalismus.  Die Aufzeichnungen werden nach 72 Stunden gelöscht. 

Expansions-bremsend ist, wie Unimarkt Eigentümer Andreas Haider am ECR Tag erklärte, die heimische Ladenöffnungszeiten-Regelung. Sie besagt, dass für die Boxen dieselben Bestimmungen wie für die konventionellen Läden gelten. Solcherart ergibt sich eine Diskriminierung gegenüber den Tankstellen-Shops und den Verkaufsautomaten. Nicht anders ergeht es übrigens Teo in Deutschland. Für Haider ist diese Beschränkung umso unverständlicher, als gerade die autonomen Läden die Nahversorgunglücke in solchen Gemeinden schließen, von denen sich bereits das letzte traditionelle Kaufmannsgeschäft verabschiedet hat.

Halbtags-Hybridmarkt in Gaflenz (OÖ)

Ein innovatorische Glanzleistung der Uni Gruppe aber sind die beiden, in diesem Herbst eröffneten Hybridmärkte in Gaflenz und Schenkenfelden. Der Nah&Frisch Markt LENZ in Gaflenz, betrieben von einem privaten Verein, präsentiert sich an den Vormittagsstunden als  "normaler" Supermarkt mit Frischwaren-Bedienung und verwandelt sich an Nachmittag in einen kassenlosen, autonomen Laden mit 100% Selbstbedienung. Die Bedientheken sind dann, ebenso wie die Regale mit dem Angebot an alkoholischen Getränken, geschlossen, die Kassen unbesetzt. 70% des Tagesumsatzes werden vormittags bei Vollbetrieb, 30% nachmittags bei Pick & Go erzielt. Uni-Partner in Schenkenfelden ist ein Sportartikel-Händler, der sich den Hybrid Markt als zweites Standbein zugelegt hat. Man darf gespannt sein, ob diese originelle Variante von Connected Retailing hierzulande und anderswo Schule macht.

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geschrieben am

05.12.2022