Corona: was Retailer von China lernen können
China hat den Höhepunkt der Corona-Epidemie überschritten. So wie die Behörden in Europa von den bei der Bekämpfung des Virus gewonnenen Erfahrungen profitieren, kann auch der heimische Handel von den Chinesen lernen. Die Zeit läuft: Da die Lieferung von Waren aus China nach Europa auf dem Seeweg sechs Wochen und per Güterzug etwa drei Wochen benötigt, steht dem Handel das Schlimmste noch bevor. Besonders hart treffen wird es u.a. den stationären Modehandel. Dr. Mirko Warschun, Leiter der Retail und Konsumgütersparte bei Kearney: „Schon länger leidet der stationäre Modehandel unter dem Rückgang der Shop-Besucherzahlen. Was offline verloren ging, floss stattdessen in die Kassen der Online-Shops. Immer mehr Läden mussten aufgeben, ein Problem nicht nur für die Eigentümer, sondern auch für die Zentren kleinerer und mittlerer Städte.“ Nun kommt die Corona-Krise hinzu und wirkt wie ein Katalysator. Stimmen erste Prognosen, droht ein beschleunigter Niedergang. „Gerade kleine Händler werden ihrer Geschäftsgrundlage beraubt, während Kreditlinien und Rechnungen weitergezahlt werden müssen. Wer jetzt noch kein attraktives Online-Angebot hat, dem droht nicht nur ein finanzieller Engpass, sondern auch der Verlust weiterer Marktanteile an Mitbewerber. Das Schlimmste daran: Niemand kann vorhersagen, wie lange der Lockdown für den stationären Modehandel andauern und was im Herbst passieren wird. Es könnte eine erneute Schließungswelle drohen“, erklärt Warschun.
Keine Chinamode im Herbst?
Aber selbst nach Ende des Lockdowns stellt sich die Frage, was Modehändler im Herbst in ihren Shops überhaupt anbieten werden? „Die Produktion der Herbstkollektionen hätte eigentlich schon beginnen sollen, doch erst jetzt nehmen erste Produktionsstätten in China und Südostasien ihren Betrieb wieder auf. In der Türkei oder auch in Spanien bleibt die Situation jeweils weiter angespannt. Es drohen Engpässe und ein verschärfter Kampf um die Lieferungen. Wer hier nicht über die notwendige Liquidität verfügt, droht abgehängt zu werden, denn viele Wettbewerber aus dem Online-Segment verfügen über die volleren Kassen. Jeder Tag des Abwartens ist einer zu viel, denn die Uhr tickt!“, so Warschun.
Trend 1: Die „Alten“ entdecken den Online-Handel, Junge lassen Lebensmittel liefern
Bisher war der Einzelhandel sehr zurückhaltend, wenn es um das Online-Geschäft mit frischen Lebensmitteln ging. Während der aktuellen Epidemie sind allerdings die älteren Konsumenten am stärksten durch das Virus gefährdet, sodass sie häufig zu Hause bleiben und online einkaufen. Gleichzeitig müssen die Jüngeren auf Restaurantbesuche verzichten und lassen sich stattdessen Lebensmittel liefern, wodurch die Nachfrage nach frischer Ware zusätzlich steigt. Das Ergebnis: Die bisherige Zurückhaltung ist einer großen Nachfrage nach frischen Lebensmitteln im Onlinehandel gewichen. Mit der wachsenden Nachfrage im E-Commerce hat gleichzeitig auch der Druck auf der Angebotsseite zugenommen, wodurch es zu Lieferengpässen kam. Warschun: „Unsere Recherchen vor Ort haben ergeben, dass die Fehlbestände im E-Commerce größer waren als in den konventionellen Supermärkten und kleineren Lebensmittelgeschäften. Wir gehen davon aus, dass dies auf fehlende Investitionen in die Lieferkette zurückzuführen ist und dass die Onlinepioniere hier vom traditionellen Einzelhandel lernen können.“
Trend 2: Offline-to-Online-Konzepte
E-Commerce über Social-Media-Kanäle und die Marktfragmentierung entwickeln sich von besonderen Maßnahmen in der Krise zur neuen Normalität für den stationären Einzelhandel. Da die meisten Läden in den Städten wegen der Epidemie geschlossen sind, bietet das Offline-to-Online-Konzept eine Möglichkeit für Händler, das Geschäft mit ihren Kunden vor Ort aufrechtzuerhalten. Dies geschieht häufig unter Verwendung von WeChat-Miniprogrammen, Live-Streaming und kurzen Videos. Händler haben diese Schritte aus einer dringenden Notwendigkeit heraus gesetzt. Doch wir erwarten, dass diese Konzepte nach dem Ende der Epidemie zum Bestandteil des Tagesgeschäfts im traditionellen Einzelhandel werden. Darüber hinaus war der Traffic bisher sehr fragmentiert, was durch unabhängige Aktivitäten einer großen Anzahl von Offline-Einzelhändlern auf verschiedenen Medien verursacht wurde. Auch die Durchführung von Transaktionen erfolgte dezentral. Wobei verschiedene Agenten Aufgaben wie die Bestellung über ein WeChat- Miniprogramm und die Produktlieferung über Ladengeschäfte vor Ort übernahmen.
Trend 3: Die Akzeptanz des „kontaktlosen“ Einzelhandels steigt bei Retailern und Kunden
China hat massiv versucht, das Coronavirus einzudämmen. Aus diesem Grund waren die Konsumenten für persönliche Kontakte sensibilisiert. Folglich haben Einzelhändler und Gemeinden verschiedene Services eingeführt, die dabei helfen, physische Kontakte zu vermeiden. Wir gehen davon aus, dass die wachsende Zahl von Abhol- und Self-Service-Stationen auch auf der Nachfrageseite ein günstiges Umfeld für die automatisierte Auslieferung schafft. So könnten beispielsweise Lieferroboter in Hotels auf den Aufzug zugreifen und automatisch die Telefone der einzelnen Zimmer anwählen. „Entscheidend wird jedoch sein, die „letzte Meile“ mit Drop-off-Stationen und zentralen Abholstationen zu gestalten, um den automatisierten (kontaktlosen) Betrieb deutlich einfacher zu gestalten“, so Warschun.
Trend 4: Große Handelsplattformen werden stärker, Startups haben es in Zukunft schwerer
Die plattformbasierte Integration wird weiterhin kleinere und unabhängige Retailer in größere Einzelhandelssysteme einbinden. Die Konjunkturschwäche infolge der Epidemie führt nun dazu, dass vielen kleinen und mittleren Unternehmen die Insolvenz droht. Weil der Markt heute weniger risikofreudig ist, wird es für Start-ups mit ihrem höheren Bedarf an Fremdfinanzierung möglicherweise schwerer zu überleben. Gleichzeitig erwarten wir, dass besonders kapitalintensive Retailer, darunter auch Restaurants und Convenience Stores, am härtesten getroffen werden. Im Gegensatz dazu haben große Handelsunternehmen gezeigt, wie gut sie Konsumenten mobilisieren und technologische Vorteile nutzen können, um die Krise durch weitere Kundenakquisition und zusätzlichen Umsatz in eine Chance zu verwandeln. Große Plattformen haben in dieser Zeit auch ein breiteres Spektrum an Anbietern und Kunden hinzugewonnen. Für Händler auf größeren Plattformen ist es dabei am wichtigsten, dass sie sich auf leistungsfähige Ressourcen und technische Funktionalitäten verlassen können. Warschun: „Die chinesische Suning-Retail-Cloud-Plattform organisierte in kurzer Zeit mehr als 5.000 Ladeninhaber, um gemeinsam über die Plattform den Verkauf außerhalb der Ladengeschäfte zu ermöglichen. Einige Inhaber erzielten so 30 bis 80 Prozent ihrer üblichen Umsätze, während ihre Geschäfte geschlossen waren."