BWB: Zeugnisverteilung lässt LEH aufatmen
Tipp an alle Unternehmer und Manager aus Handel und Markenartikelindustrie: Klicken Sie www.bwb.gv.at/downloads an und rufen Sie die Rubrik „Branchenuntersuchungen“ auf. Dort finden Sie den 268 Seiten umfassenden Abschlussbericht zur Branchenuntersuchung Lebensmittel 2023. Dr. Natalie Harsdorf-Borsch, die Leiterin der BWB und ihr Team haben mit diesem Bericht nicht nur eine sachlich hochkompetente Arbeit abgeliefert, sie haben sich auch mancher Fleißaufgaben unterzogen und Themen aufgegriffen, die jenseits der gesetzlich vorgegebenen Agenda einer Wettbewerbsbehörde liegen.
In zehn Runden hat die Behörde seit dem Herbst des letzten Jahres 700 Handelsunternehmen und 1500 Lieferanten abgefragt, weiters die Meinung von 1000 Konsumentinnen erheben lassen. Studien von GfK, Nielsen IQ und TQS Research & Consulting flossen in den Bericht ein, Das Ergebnis: Erhöhte Transparenz über das Wettbewerbsgeschehen zwischen den Big Five im heimischen LEH - ja, auch MPreis wurde neben Spar, Rewe, Hofer und Lidl in den Club der Großen aufgenommen - und ihren Lieferanten aus der nationalen und internationalen Lebensmittel- und AF-Getränkeindustrie.
retailreport.at hat dieses Konvolut durchstöbert und dabei eine Anzahl erstaunlicher Befunde entdeckt, die der Öffentlichkeit neue Erkenntnisse über den Wettbewerb entlang der Food Supply & Value Chain „vom Hof zum Herd“ bescheren.
LEH ist kein Inflations-Profiteur
Mit dem de facto Freispruch des Lebensmitteleinzelhandels vom Verdacht, er habe sich anlässlich der Teuerungswelle durch die vorgenommenen Preiserhöhungen ein Körberlgeld erwirtschaftet, lieferte die BWB eine Überraschung, die auch in der Medienwelt für Aufsehen sorgte. “Kein Nachweis für Gierflation“ lautete die Schlagzeile des Standard vom 4.11. und Die Presse schrieb: „Die Supermärkte sind laut Wettbewerbsbehörde kein Profiteur der Inflation“.
Die Begründung der BWB für den Persilschein, ausgestellt an Spar, Rewe & Co. lässt an Deutlichkeit nichts zu wünschen übrig: „Die Handelspannen und somit die Erträge für die Unternehmen des Lebensmitteleinzelhandels steigen vom zweiten Halbjahr 2022 bis 2. HJ 2023 nicht systematisch an. Insgesamt gibt es keine Hinweise dafür, dass vor dem Hintergrund steigender und hoher Inflation versucht worden wäre, im Untersuchungszeitraum die Handelsspannen zu vergrößern“.
Und noch detaillierter heißt es im Bericht auf Seite 102: „Betrachtet man die Entwicklung der Handelsspanne im LEH seit dem ersten Quartal 2019 bis zum zweiten Quartal 2023 so ist … in den Jahren 2019 bis 2020 eine leichte Abwärtsbewegung von 31 auf 30% erkennbar. Seit Beginn 2021 ist sie jedoch relativ konstant geblieben und hat sich zwischen 29% und meist nahe 30% eingependelt.“
Handelsspannen: Größere Bandbreite im Supermarkt-Bereich
Hard Facts über die unterschiedlichen Handelsspannen, wie sie bei den Betriebstypen Discounter und Supermärkte anzutreffen sind, kann man auf Seite 104 nachlesen: "Vergleicht man Supermärkte mit Discountern, so sticht hervor, dass die Spannweite von Handelsspannen bei Supermärkten größer ist. ... lässt man Brot und Gebäck außen vor, so erstrecken sich die Handelsspannen bei Discountern von 19,3 bei Tiefkühlpizzen bis zu 36,6% bei Knabbergebäck. Bei Supermärkten liegt die Handelsspanne bei rotem Frischfleisch mit 7,7% am tiefsten und bei Wurst und Schinken mit 41,5% am höchsten.“ Übrigens sind die Handelsspannen im LEH bei Brot und Gebäck mit durchschnittlich 45% wegen der hohen Energiekosten, die von den Backstationen verursacht werden, besonders hoch.
Mischkalkulation erfordert Warenkorb-Preisvergleiche, Artikel-Vergleiche sind nicht sinnvoll
Die große Bandbreite zwischen den Handelsspannen bei den einzelnen Warengruppen – und das gilt nicht für die Supermärkte, sondern auch, in leicht eingeschränktem Ausmaß, für die Discounter - bringt zum Ausdruck, welch große Bedeutung die Mischkalkulation für den LEH hat. Die richtige Balance zwischen margenschwachen Frequenzbringern und margenstarken Impulsartikeln zu finden, ist die große Herausforderung, der sich die Sortimentsmanager in den Zentralen zu stellen haben. Die BWB weist aus diesem Grund darauf hin, dass Preis- und Teuerungs-Vergleiche sinnvollerweise stets anhand von Warenkörben und nicht von Preisen einzelner Artikel vorgenommen sollten. Daraus kann man durchaus einen sachlichen Rüffel an die Adresse der Arbeiterkammer herauslesen, die immer wieder Preisvergleiche im Zeitverlauf zwischen Einzelartikeln anstellt und daraus falsche Schlüsse über das Ausmaß der Inflation im LEH ableitet.
Besonders spannend sind die Erkenntnisse der BWB Erhebungen über die Margenentwicklung bei den Lebensmittelproduzenten. Dabei fällt auf, dass sich die Ergebnisse der österreichischen Erzeuger durchaus von jenen der Lebensmittel-Multis unterscheiden. Das Executive Summary der BWB-Untersuchung zieht aus den Meldungen der überwiegend heimischen Industrie folgende Schlüsse:
„Trotz signifikanter Kostensteigerungen konnte die Mehrheit der… befragten Unternehmen zumindest den Großteil ihrer Kostensteigerungen im Jahr 2022 an den LEH weitergeben. Dennoch entwickelten sich die produktspezifischen Gewinnmargen weitgehend zu Ungunsten der Lieferanten. Sie sanken 2022 bezogen auf den BWB-Warenkorb um mehr als 2 Prozentpunkte gegenüber dem Vorjahr. Im ersten Halbjahr 2023 veränderten sie sich kaum. Resümee:“ Insgesamt hat die BWB damit keine wettbewerbsrechtlich bedenklichen Steigerungen der Gewinnmargen der Lebensmittelindustrie in den analysierten Produktgruppen beobachtet“.
Preis- und Margenentwicklung bei den Marken der Multis im grünen Bereich
Nun zur Margenentwicklung bei den Multis, deren Marktbedeutung hierzulande nach wie vor sehr hoch ist. Die Multis dominieren in neun der insgesamt 25 untersuchten Produktgruppen und decken auf diese Weise mehr als 50% der auf die betreffenden Kategorien entfallenden Haushaltsausgaben ab. So entfallen beispielsweise knapp 70% der Ausgaben für Tafelschokolade und Suppen auf Produkte internationaler Markenartikler. Befragt wurden 26 in Österreich mit ihren Sortimenten im LEH vertretene multinationale Konzerne, von Nestlé, Unilever und Mondelez bis Ferrero, Dr. Oetker und Barilla.
Was die Margenentwicklung bei den internationalen Markenartikeln betrifft, heißt es in den Medienunterlagen: „Besonders international tätige Hersteller:innen konnten ihre Gewinnmargen in einzelnen Produktgruppen im Beobachtungszeitraum deutlich steigern“. Die genannten Beispiele, nämlich Butter, Margarine, Mischfette mit rund 7% Margenanstieg lassen freilich den Schluss zu, dass es sich eher um Ausnahmefälle als um die Regel handelt. Mopro-Multis scheinen überhaupt ein Sonderfall zu sein, denn an anderer Stelle ist von massiven Einbrüchen der Gewinnmargen bei Naturjoghurt: (-11%) die Rede.
Und noch eine wichtige Erkenntnis: Der LEH hat laut BWB-Recherche die Verkaufspreise von Produkten internationaler Hersteller nicht erkennbar stärker angehoben, als jene von den Produkten heimischer Unternehmer.
Generell ist festzuhalten, dass die BWB bei ihren Recherchen betreffend die in Österreich erzielten Margen und Gewinne internationaler Konzerne wankendes Terrain betritt. Anhand der Verrechnungspreise für Ware aus internationaler Produktion lassen sich Margen und Gewinne relativ einfach zwischen einzelnen Absatz-Ländern verschieben.
Österreich-Aufschlag: Nicht der Handel, die Industrie ist schuld
Besonders fündig wurde die BWB bei ihren Nachforschungen über die Ursachen des „Österreich-Aufschlags“ bei zahlreichen Lebensmitteln. Längst ist wissenschaftlich dokumentiert, dass Markenartikel des Food (& Drug)-Bereichs in deutschen Supermärkten deutlich billiger sind als in österreichischen. Die BWB erfuhr bei ihren Befragungen, dass sowohl Händler als auch Hersteller jeweils die Gegenseite für diese Preisdifferenz verantwortlich machen, kommt nach eingehender Analyse zu folgendem Ergebnis: “Konkret gibt es deutliche Hinweise dafür, dass unterschiedliche Einkaufspreise des Lebensmitteleinzelhandels in den beiden Ländern einen großen Teil der Preisunterschiede erklären und dass Lebensmittelhersteller, insbesondere die großen internationalen Hersteller für die gleichen Produkte entsprechend ihrer Länderstrategien unterschiedliche Preise auf den verschiedenen nationalen Märkten verrechnen.
Geo Blocking: Brüssel muss aktiv werden
Der Tatbestand des Geo Blocking, praktiziert von multinationalen Lebensmittel- und Getränkekonzernen ist so mit aktenkundig, diesen Misstand zu beheben, ist allerdings nicht Aufgabe der BWB sondern der EU-Wettbewerbshüter in Brüssel. Weshalb die Liste der wettbewerblichen Empfehlungen folgenden Passus enthält: “Stärkung des Binnenmarktes und Befassung der Europäischen Kommission hinsichtlich unterschiedlicher Einkaufspreise in den EU-Mitgliedsstaaten aufgrund von Länderstrategien von Lebensmittelkonzernen. Über einen Brauereikonzern wurde in dieser Causa bereits ein Urteil gefällt, ein Verfahren gegen Mondelez ist im Laufen, weiters ist ein Kaffee-Riese im Visier der Brüssler Behörden.
Lebensmittelhändler in österreichischem Eigentum, Firmen wie Spar AG, MPreis oder Unimarkt haben doppelten Anlass sich darüber zu freuen: Zum einen stellt die BWB klar, dass nicht der heimische Handel für den Österreich-Aufschlag zur Verantwortung zu ziehen ist, sondern die betreffenden Markenartikel-Multis. Zum anderen ist es höchste Zeit, dass im EU-Binnenmarkt dieser Diskriminierung, unter der Supermärkte in Grenznähe zu Bayern besonders leiden, von Brüssel ein Riegel vorgeschoben wird.
Unlautere Handelspraktiken: Industrie macht ihrem Ärger Luft
Ja, und dann ist noch das heiße Eisen der „unlauteren Handelspraktiken“. Häufig wird im öffentlichen Dialog der semantische Trick angewandt, den Begriff „unfaire Handelspraktiken“ in „unfaire Praktiken des Handels“ umzudeuten. Natürlich musste die BWB diesen wettbewerbsrechtlichen „Dauerbrenner“ in ihr Untersuchungs-Programm einbeziehen. Da lag es auf der Hand, sich, psychologisch sehr geschickt, den Lieferanten als Klagemauer zur Verfügung zu stellen. Und diese haben davon reichlich Gebrauch gemacht. Die Befragung durch BWB ergab, dass von den 1.500 Lieferanten sich
- 14,3% (also rund 70 Firmen) einseitigen Vertragsänderungen seitens des Handels ausgesetzt sehen,
- 13,6% eine Zahlungsaufforderung erhielten, ohne dass dafür eine Gegenleistung erbracht wurde,
- 13,4 % eine Zahlungsaufforderung für einen von Produzenten unverschuldeten Qualitätsverlust erhielten.
Harsdorf-Borsch erklärte in diesem Zusammenhang, die Anzahl der von Lieferanten gemeldeten unfairen Praktiken von Supermärkten sei sehr beunruhigend. Denn vier von zehn befragten Produzenten sahen sich in den letzten fünf Jahren mindestens einmal mit Verstößen von Händlern gegen das, mittlerweile von der EU erlassene FWBG (Faire Wettbewerbsbedingungen Gesetz) konfrontiert. Die BWB-Chefin stellte den Handelsketten, die gegen dieses Gesetz verstoßen, die Rute ins Fenster. Ermittlungen seien bereits angelaufen, mit den ersten Anträgen beim Kartellgericht sei noch heuer zu rechnen.
Konzentration und Marktmacht-Missbrauch
Wenn vom LEH und seiner „Marktmacht“ die Rede ist, wird von Lieferantenseite unweigerlich das Argument der hohen Konzentration ins Spiel gebracht. Sie verleite die Handelsriesen zum Marktmacht-Missbrauch. Es zählt zu den bedeutendsten Ergebnissen der Branchenuntersuchung, dass sie dieses scheinbar eherne Dogma relativiert. Jetzt nämlich ist im Kreis der Wettbewerbshüter von „kompetitiven Oligopol“ die Rede. Tag für Tag beweist ja der Preis- und Aktionswettbewerb zusammen mit dem dichten Ladennetz, dass weder Konsumenten noch Produzenten von Händlern, die über hohe Marktanteile verfügen, bevormundet werden.
Erosion der Märkte schreitet voran
Auf Dauer lässt sich auch die Hypothese vom Oligopol im LEH und dem daraus abgeleiteten Marktmacht-Ungleichgewicht wissenschaftlich nicht aufrecht erhalten. Denn die Erosion der Märkte schreitet gerade im FMCG-Bereich unaufhaltsam voran. Was ist damit gemeint? Der LEH ist für viele Lebensmittelproduzenten zwar ein wichtiger, aber keineswegs der einzige Absatzkanal: Exporte, Belieferung nachgelagerter Verarbeitungsbetriebe, Direktvermarktung, Eigenfilialen, Foodservice in Richtung Gastronomie, Verkauf über Webshops und Online-Marktplätze: Alle diese Vertriebsformen bieten sich als Alternativen zur klassischen Distribution über den LEH an. Wenn auf diese Weise nicht 80 oder 90% sondern nur 30 oder 40% des Absatzvolumens eines Produzenten über den LEH laufen, dann entfallen auf jeden der Big Four höchstens zehn Prozent der Gesamtabsatzmenge. Dann kann von einem Nachfrage-Oligopol des LEH keine Rede sein.