ACSP-Kongress: Zukunftsmodell Quartiersentwicklung
Von Manuel Friedl
Die Herausforderungen für Immobilienentwickler sind zahlreich: die Zinswende, Baupreissteigerungen, geopolitische Unsicherheiten, neue ESG-Erfordernisse. Die Anzahl der Konkurse in der heimischen Immobilienbranche hat sich in den ersten drei Quartalen von 67 im Vorjahr auf heuer 142 mehr als verdoppelt. Kein anderer Wirtschaftszweig weist einen ähnlich massiven Anstieg auf. Und da ist der weitaus prominenteste aktuelle Krisenfall – die Signa-Gruppe von Rene Benko – noch gar nicht mit eingerechnet.
Für die Betreiber von Handelsimmobilien ist die Lage nochmals ein Stück schwieriger als etwa für die Entwickler von Wohnbauten: Die Nachfrage der Endkonsumenten nach Handelsgütern hat immer noch nicht das Vor-Corona-Niveau erreicht. Laut WIFO waren die realen Umsätze der Branche zuletzt 12 Monate in Folge rückläufig. Zahlreiche traditionelle Mieter von Einkaufszentren befinden sich in Schieflage oder sind bereits aus dem Markt ausgeschieden, man denke nur an Salamander, Delka, Gerry Weber, Hallhuber oder Reno.
Keine neuen Shopping-Center mehr
„Wir wollen nach vorwärts blicken“, gab Christoph Andexlinger, Obmann des ACSP (Austrian Council of Shopping Places) und gleichzeitig CEO des heimischen Shopping-Center-Marktführers SES, als Losung für den diesjährigen ACSP-Kongress aus. Rund 150 Teilnehmer, darunter alle Top-Player der Branche, waren am 15. November im Kuppelsaal der TU Wien zusammengekommen, um sich dem wichtigsten Zukunftsthema der Branche zu widmen: der Quartiersentwicklung.
Denn, auch das wurde in den letzten Monaten immer klarer: Die Ära der Neuentwicklungen von monofunktionalen Einkaufskomplexen ist wohl endgültig vorbei. Finanzierungen sind kaum mehr aufzustellen, Käufer für derartige Immobilien immer schwerer zu finden – und Mieter sowieso. Von den Verschärfungen in der Raumordnung gar nicht zu reden, die solche Entwicklungen in vielen Bundesländern bereits nahezu unmöglich machen. Der öffentliche Druck, das Thema der fortschreitenden Bodenversiegelung endlich in den Griff zu bekommen, hat massiv zugenommen.
Shopping-Center stehen für nur 0,3 % der versiegelten Fläche
Den permanenten Anschuldigungen, der Handel sei einer der Hauptverantwortlichen für die Bodenversiegelung, ist der ACSP gemeinsam mit dem Handelsverband zuletzt mit einer wissenschaftlichen Studie entgegengetreten. Die Kernergebnisse:
- Der gesamte Handel steht derzeit für einen Anteil von gerade einmal 1,32 % der gesamten versiegelten Fläche Österreichs – inklusive aller Nebenräume, Lagerflächen oder Parkplätze.
- Die Shopping-Center sind dabei überhaupt nur für 0,3 % der versiegelten Flächen verantwortlich, bei einer Neuversiegelung „von nahezu null in den letzten Jahren“, wie Andexlinger betonte.
Die Botschaft dürfte angekommen sein: Seit Veröffentlichung der Studie Anfang Oktober ist es deutlich ruhiger geworden um das Thema. Trotzdem stellte Andexlinger abermals klar: „Wir wollen verantwortungsvoll mit der begrenzten Fläche umgehen, die wir in Österreich haben.“
Gegenentwurf Quartiersentwicklung
Auch dazu passt das Generalthema des Kongresses. Ist doch das gemischt genutzte Quartier so etwas wie die Antithese zum monofunktionalen Fachmarktzentrum mit riesigem Parkplatz am Stadtrand. Gleich drei Mal wurde an dem langen Kongresstag Bezug genommen auf Le Corbusier und das unter seiner Federführung propagierte Leitbild der „autogerechten Stadt“, das eine funktionale Trennung zwischen Wohnquartieren, Gewerbe- und Industriegebieten und Einkaufsmöglichkeiten vorsah.
Spätestens mit Corona hat eine Zeitenwende eingesetzt. Statt dem Auto steht nun der Mensch im Mittelpunkt. Höchste Zeit, möchte man sagen. Mit der 15-Minuten-Stadt wurde eine neue Leitidee geboren: Sämtliche Belange des täglichen Bedarfs sollen innerhalb von 15 Minuten zu Fuß oder mit dem Rad erledigt werden können. Durch den Verzicht aufs Auto soll den Menschen der öffentliche Raum zurückgegeben, der soziale Zusammenhalt gestärkt und, wenn schon nicht der ganze Planet, dann zumindest die Innenstadt gerettet werden.
Die Beispiele dafür, dass diese Idee auch in der Praxis funktionieren kann, sind zahlreich. Am Kongress gab es dazu Einblicke aus Berlin und Hamburg ebenso wie aus Wien, aus Lienz ebenso wie aus Liverpool. Der Bogen der präsentierten Quartiere reichte dabei von reaktivierten historischen Stadtvierteln über die Öffnung einst monofunktionaler Retail-Immobilien für andere Angebote bis hin zu komplett neu erschlossenen Siedlungsgebieten.
Revitalisierung der Altstadt von Lienz
Oskar Januschke, Standortentwickler von Lienz, leitete von historischen Beispielen ausgehend eine grundlegende menschliche „Sehnsucht nach organischen, urbanen Begegnungsräumen“ ab. In Lienz wurde beginnend mit 2002 der Autoverkehr aus der Oberen Altstadt verbannt und so eine der schönsten Innenstädte Österreichs wieder für die Bevölkerung – und die Touristen – erlebbar gemacht. Nahezu alle Hausbesitzer zogen an einem Strang, renovierten ihre Fassaden, brachten die Geschäfte auf Vordermann und zahlen noch heute jährlich 50.000 Euro in einen gemeinsamen Marketing-Topf ein. Der Erfolg? Eine Leerstandsquote von aktuell 0,3 %, ein gestärktes Selbstbewusstsein der Region und ein rundum hochqualitatives Angebot, das bis hin zum Gourmet-Streetfood-Festival mit 22 (!) Haubenköchen im Sommer reicht.
Januschke sparte bei seinem Vortrag aber auch nicht aus, auf die vielfältigen Probleme und Interessenskonflikte hinzuweisen, auf die man bei einer derart umfassenden Umgestaltung einer bestehenden Innenstadt stößt, etwa zwischen Anwohnern und (Nacht)Gastronomen. So waren insgesamt 42 Workshops nötig, um sich auf einen endgültigen und bindenden Vertrag zu einigen, mit dem alle Interessenstruppen einverstanden waren.
Klar wurde nicht nur anhand von Januschkes Ausführungen: Innenstädte brauchen den Handel, um lebenswert zu sein und um für Finanzkraft in den Städten zu sorgen. Fließt das Geld der Kunden zu Amazon ab, leiden nicht nur Händler und Immobilienbesitzer, auch die öffentlichen Kassen bleiben leer.
Stadtentwicklung auf dem Reißbrett in Wien
Da hatte es die SES mit der Errichtung ihrer ersten zentral gemanagten Einkaufsstraße des Landes in der Seestadt Aspern vermutlich etwas einfacher. Schließlich entstand das neue Stadtviertel im Norden Wiens auf dem Reißbrett. Im Endausbau soll die Seestadt Aspern 26.000 Einwohner und 20.000 Arbeitsplätze umfassen, nach und nach wird auch der Mieter- und Branchenmix an die wachsende Bevölkerung angepasst. Derzeit gibt es 27 Shops mit 8.000 m2 vermietbarer Gesamtfläche, weitere 50 Shops bzw. 16.000 m2 sind noch geplant.
Ein weiteres, wenn auch etwas kleineres neues Projekt in der unmittelbaren Nachbarschaft zur Seestadt Aspern präsentierte Architekt Stefan Mayr: das Obere Hausfeld, ausgelegt auf rund 8000 Einwohner. „Wien wächst. Wir können entscheiden wie“, sagte Mayr. Der Handel wird sich in dem neuen, autofreien Quartier an den zwei U-Bahn-Stationen (Hausfeldstraße bzw. An den alten Schanzen) konzentrieren. „Handel hat nicht überall Sinn“, so Mayr. Andernorts werden in den EG-Zonen etwa Gastronomie oder soziale Dienstleistungen angesiedelt.
An einem zumindest ebenso interessanten Projekt arbeitet Stefan Mayr mit seinem Architekturbüro Superwien aktuell in Innsbruck: Dort soll das sogenannte Marktviertel neue entwickelt werden, das derzeit weitgehend unbeachtet zwischen Markthalle und Finanzamt direkt am Ufer des Inns im Dornröschenschlaf liegt. Mittels neuer, attraktiver Nutzungen und einer neuen Brücke über den Inn soll dort in wenigen Jahren eine reizvolle Uferpromenade entstehen, die die beliebte Innenstadt weiter aufwertet und näher an den namensgebenden Fluss heranführt.
Kooperation zentral
Dass die Aufgabe der Immobilienbranche mit derartigen Projekten nicht einfacher wird, ist klar. Die Kooperation mit vielen Stakeholdern ist zentral, egal ob es um Revitalisierungen oder Neuentwicklungen geht. Der Handel ist künftig nur noch eine unter vielen Nutzungsformenarten, die von Wohnen über Büros und Hotels bis hin zu Dienstleistungen reichen.
Doch auch die Vorteile für Immobilienentwickler und -investoren wurden am Kongress herausgearbeitet. Allen voran: die Risikostreuung. Denn nicht nur Betreiber von reinen Handelsimmobilien hatten zuletzt zu leiden. Auch Bürocentern ohne ergänzende Infrastruktur gelingt es schwer, die Mitarbeiter:innen wieder aus dem Homeoffice herauszulocken. Nach Corona sind die Leerstände massiv gestiegen, die Preise für Büroimmobilien massiv gefallen. Nicht umsonst siedeln sich die beliebten Co-Working-Center bevorzugt in Innenstädten an, wo es für „Urban Professionals“ deutlich attraktiver zu arbeiten ist, mit angesagten Cafés und Shops gleich um die Ecke.
„Bei Quartiersentwicklungen geht es auch darum, Nutzungskonzepte, die alleine nicht rentabel sind, zu einem rentablen Gesamtkunstwerk zu schnüren“, sagte PwC-Consulter Marius Richter, der am Kongress eine neue Studie zum Thema präsentierte. Von der Synergie würden alle Branchen profitieren. Galten früher die großen Modeanbieter als Frequenzbringer für Shopping-Center, könne das heute ein Ärztezentrum sein: Dienstleistungen wie einen Zahnarztbesuch kann man nicht online wahrnehmen. Von der so entstehenden Frequenz profitiere der angrenzende Handel.
Eingeschoßige Fachmärkte sind Vergangenheit
„Eine Immobilie soll länger leben als 40 Jahre, sie muss sich adaptieren können“, sagte auch Thomas Vosskamp, Vorstand des deutschen Immobilienberaters und -bewerters Bulwiengesa. Das sei bei vielen rein auf Handels- oder auf Büronutzung ausgelegten Immobilien der letzten 40 Jahre nicht gelungen. Auf die umfassende Umgestaltung und Öffnung einst reiner Retail-Immobilien spezialisiert hat sich der deutsche Immobilienentwickler Kintyre. Dessen Manager Sebastian Müller zeigte, dass man selbst aus einem riesigen, hässlichen Fachmarktzentrum mit 120.000 m2 (!) Grundfläche ein attraktives, gemischt genutztes Stadtviertel machen kann. Wo heute eine Betonwüste ist, sollen schon bald Wohnungen, eine Schule, ein Hotel und Büros die derzeitige Monostruktur ergänzen, während ein Teil der Parkplätze in Grünraum umgewandelt wird. Die Handelsfläche bleibt mit 55.000 m2 nahezu unverändert, doch wird diese künftig mit 220.000 m2 an anderen Nutzungen verdichtet. „Wir müssen den Boden in Zukunft besser nutzen“, gab Müller als Losung aus. „Die Zeiten der eingeschoßigen Fachmärkte sind vorbei.“